Das Buch der Sünden
der Mond.
Helgi regte sich nicht. Ansgar hatte eine Decke über ihn und Teška ausgebreitet. Mit zitternden Fingern berührte sie Helgis Rücken. Seine Haut fühlte sich kalt an, viel zu kalt.
Ansgar saß mit verschränkten Beinen etwas abseits des Feuers und betete noch immer.
Teška beugte sich über Helgi und berührte seine Schläfe, um nach der Stelle zu suchen, an der man das pulsierende Blut fühlen konnte. Sie ließ ihre Fingerspitzen über seine Schläfe streichen – und endlich spürte sie den Puls.
Teška stöhnte erleichtert.
Ansgar unterbrach sein Gebet. «Hat er es überstanden?»
«Zumindest die Vergiftung. Aber die Pfeilspitze steckt noch in seinem Bein.»
Als sie das Messer aus der Glut ziehen wollte, ließ sie es mit einem Schrei fallen. Es war mittlerweile so heiß geworden, dass sie sich die Hand am Hirschhorngriff verbrannt hatte. Ansgar gab ihr ein feuchtes Tuch, das sie um den Griff wickelte. Dann drehten sie gemeinsam Helgi auf den Rücken.
Sein Gesicht war so bleich wie das einer Leiche.
Teškas Vater hatte ihr einmal gezeigt, wie ein Widerhakenpfeil zu entfernen war, denn dies gehörte zum Handwerk eines jeden Jägers und Kriegers. Allerdings hatte der Pfeil damals im Hinterlauf eines toten Hirsches und nicht im Bein eines lebenden Menschen gesteckt.
Teška war sehr stolz gewesen, dass Ranislav ihr das Jagen beigebracht hatte: wie man einen Bogen spannte und einen Pfeil abschoss, wie man das Wild aufspürte und sich anpirschte. Und wie man die Pfeilspitze aus dem Hirschfleisch schnitt – allerdings, ohne dass das Messer dabei glühend heiß war.
Teška begann mit den Vorbereitungen. Sie entfernte vorsichtig den restlichen Hosenstoff rings um den Pfeilschaft, um die Wunde vom getrockneten Blut zu säubern. Anschließend wies sie Ansgar an, Helgis Kopf und Schultern festzuhalten.
Es war so weit.
Sie atmete tief ein und wartete, bis ihre Hände nicht mehr zitterten. Dann setzte sie das Messer neben dem Pfeil an und machte einen kleinen Schnitt. Der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. Widerstandslosglitt die glühende Klinge durch das Fleisch, zertrennte Sehnen und Muskelfleisch. Das Bein begann zu zucken, als die Messerspitze auf den Knochen stieß. Teška schnitt sauber an der Pfeilspitze entlang, um die Widerhaken freizulegen, und zog anschließend die Klinge wieder heraus. Das glühende Metall hatte dafür gesorgt, dass die Wunde nicht blutete.
Teška legte das Messer beiseite und packte den Pfeilschaft. Jetzt! Mit einem kräftigen Ruck zog sie ihn heraus.
Helgis Körper bäumte sich auf, und Ansgar benötigte all seine Kraft, um ihn wieder auf den Boden zu pressen, bis der Widerstand nachließ und Helgi in sich zusammensackte.
Teška hielt den Pfeil ins Licht des Feuers. Die Spitze war blutverschmiert, an den Widerhaken klebten Fleisch- und Muskelfasern.
«Du … du hast es geschafft!» Ansgars Stimme überschlug sich vor Erleichterung.
Teška versorgte die offene Wunde mit Aalfett, schnitt aus Helgis Kleidungsresten einen Verband zurecht und bandagierte damit das Bein. Als sie sich erheben wollte, knickten ihre Knie ein. Völlig entkräftet fiel sie Ansgar in die Arme. Er legte sie behutsam auf dem Boden ab. «Du hast es geschafft, Mädchen. Du hast es wirklich geschafft!»
Sie hörte seine Stimme wie aus weiter Ferne, als er wieder zu beten begann.
«Gott ist unsere Zuflucht und Stärke, ein Helfer, bewährt in Nöten. Darum fürchten wir uns nicht, wenn auch die Erde umgekehrt wird und die Berge mitten ins Meer sinken, wenn auch seine Wasser wüten und schäumen und die Berge zittern vor seinem Ungestüm …»
Seine Worte verhallten in ihren Ohren, wie das Geräuscheines sich entfernenden Schiffs. Dann fiel sie in ein schwarzes Loch.
Ihr letzter Gedanke galt jedoch nicht
Gott dem Helfer,
zu dem Ansgar betete – nein, er galt einem Mörder, dessen Gesicht das eines Wolfes war.
7.
Wer zu Odin kommt, betritt einen gewaltigen Saal, eine Halle. Sie befindet sich im Himmelreich, in Asgard. Es ist die Walhall. Der Saal der ehrenvoll Gefallenen. Die Wände glänzen vor purem Gold. Das Dach ist aus Lanzen gefügt und mit Schilden bedeckt. Die Bänke sind mit Panzerhemden ausgelegt.
Odin ist der oberste aller Heerführer. Der Gott der Schlachten. Er hat nur ein Auge, und dieses funkelt grimmig, als jetzt ein Mensch vor ihn tritt.
Es ist Helgi, der Sohn des Schmieds Einar.
Rings um Odins Thron sitzen einhundert bärtige Krieger, die Einherjar. Die
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