Das Buch der Sünden
im Schutz einer Hütte in der Nähe der Kulthalle.
Als Helgi und Ansgar hinzukamen, überquerte das Ende des Fackelzugs gerade die Brücke, die Spitze hatte bereits die Hügel erreicht.
Helgi dachte an den Totenschädel. «Ob sie ein Menschenopfer darbringen wollen?»
Teška zuckte mit den Schultern. «Mein Vater hatte diese Zeremonien abgeschafft. Aber vielleicht hat man nach Ranislavs Tod die alten Bräuche wieder eingeführt. Ich werde es herausfinden.»
Sie verließen die Deckung, schlichen zur Brücke und überquerten sie. Die zuletzt gehenden Fackelträger waren ihnen etwa fünfzig Schritt voraus.
Als die drei die Hügelkette erreichten, verließen sie den Weg und krochen den mit Farnen und Büschen bewachsenen Hang hinauf. Helgi spürte bei jedem Schritt die Pfeilwunde in seinem Oberschenkel. Dennoch erreichten sie nach kurzer Zeit die Kuppe, wo sie sich hinter einem Erdhaufen versteckten.
Auf dem nächstgelegenen Hügel brannten mehrere Feuer – die Opferstätte. Sie war nur einen Steinwurf von ihnen entfernt.
Als Helgi sich umschaute, bemerkte er, dass es noch Dutzende weiterer Erdhaufen gab, die genauso aussahen wie die Gräber in Haithabu. Und dann wurde ihm klar, dass sie sich auf einem Friedhof befanden.
Der Fackelzug traf nach und nach auf dem gegenüberliegenden Opferhügel ein. Immer weitere Männer, Frauen und Kinder kletterten zu dem Kultplatz hinauf, wo sie sich weitläufig um vier frisch ausgehobene Erdmulden versammelten, aus denen hohe Flammen schlugen. Die Mulden säumten einen freien Platz, der etwa zehn Schritt breit und zehn Schritt lang war und in dessen Mitte man ein längliches, kniehohes Holzpodest gestellt hatte – den Opfertisch.
Als alle eingetroffen waren, breitete sich drückende Stille aus. Doch dann kam nach einer Weile Bewegung in die Versammlung. Wie auf ein Kommando traten einige Menschen ehrfürchtig zur Seite und bildeten eine Gasse, durch die ein hagerer Mann schritt.
Der Mann strahlte eine solche Autorität aus, dass selbst Helgi sie auf die Entfernung zu spüren glaubte. Er trugein purpurfarbenes Gewand, das so lang war, dass es über den Boden schleifte. Sein längliches Gesicht wies harte, unerbittliche Züge auf. Sein Haar war kurz geschnitten und im Nacken ausrasiert, und die Enden eines eigenartig geformten Schnurrbarts hingen ihm wie Tannenzapfen bis über das Kinn. «Das ist Žilobog», flüsterte Teška erregt. «Er war der Hohepriester der Ranen, der mächtigste Mann Rujanas. Mein Vater hatte dafür gesorgt, dass die Ranen ihn absetzten. Der Hohepriester hat Tod und Verderben über unser Volk gebracht. Er …»
Sie verstummte unvermittelt. Ihre Augen weiteten sich, als man ein junges Mädchen von fünfzehn oder sechzehn Jahren auf den Opferplatz führte. Es war lediglich mit einem hauchdünnen Umhang bekleidet, unter dem man die Umrisse eines spindeldürren Körpers erkennen konnte. Steifbeinig folgte es dem Hohepriester, der zum Podest vorgegangen war.
Als es sich umdrehte, entfuhr Helgis Kehle ein heiserer Laut. «Bei Odin – schaut euch diese Haare an», stieß er aus.
Niemals zuvor hatte er einen Menschen mit derart langem und hellem Haar gesehen. Es reichte dem Mädchen bis zu den Kniekehlen und schimmerte schlohweiß.
Nun trat der Hohepriester hinter das Mädchen, nahm ihm den weißen Umhang ab und geleitete es zum Podest, auf das es sich rücklings legte.
Dieses Mal war es Ansgar, der nicht an sich halten konnte. «Sie wollen das Mädchen opfern», keuchte er. «Sie schlachten ihre Kinder für die Götzen …»
Der Hohepriester schlug seinen Purpurmantel zurück und zog aus seinem Gürtel ein Messer mit einer langen, schmalen Klinge. Demonstrativ, damit jeder der Umstehendenes sehen konnte, hielt er das Messer in die Höhe.
«Können wir nichts für das Mädchen tun?», fragte Helgi.
Doch Teška antwortete nicht, und als Helgi sich zu ihr drehte, war sie verschwunden. Aufgeregt stieß er Ansgar an, der mit aufgerissenen Augen zu dem Opferhügel hinüberstarrte.
«Da ist sie», raunte er.
Helgi folgte seinem Blick und sah voller Entsetzen, wie Teška bereits den anderen Hügel erreicht hatte und nun auf die Opferstätte zulief. Von den Menschen dort hatte noch niemand sie bemerkt.
Der Hohepriester kniete neben dem Mädchen nieder, das in den Nachthimmel starrte. Dann reckte er das Messer in die Höhe. Die Klinge glänzte im Feuerschein.
Teška stürmte auf die Menge zu und drängte die Menschen auseinander. Die Ranen, die ihr
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