Das Buch der Sünden
von ihr ab.
«Komm da weg», rief Damek ihr zu.
Helgi wartete, bis Teška davongekrabbelt war undsich bei Damek in Sicherheit gebracht hatte. Aber als er sich wieder Žilobog zuwandte, war der Hohepriester verschwunden.
In diesem Moment knackte Svantevits Rumpf und begann hin- und herzuwanken. Ein irres Lachen ertönte. Helgi schaute zum Dach und sah, wie der vom Wahnsinn getriebene Hohepriester wie eine Spinne an der Holzstatue hinaufkletterte. Geschickt krallte er seine Finger in die Einkerbungen. Kurz darauf erreichte er die vier Häupter, zog sich noch weiter hinauf und hockte schließlich unter dem Dach auf dem Kopf des Gottes.
Svantevits Rumpf schwankte immer stärker. Späne rieselten aus der Kerbe. Der Wind blähte die Vorhänge. Holzstückchen wirbelten umher.
Helgi holte mit der Axt aus.
«Nein!», kreischte Damek. «Nicht den Gott schlagen, du verfluchter Däne!»
Helgi hielt inne.
In dem Moment traf eine weitere Böe den Tempel so heftig, dass die Dachschindeln klapperten. Balken ächzten. Wind erfüllte das abgehängte Geviert.
Helgi ließ die Axt sinken.
Plötzlich stieß Žilobog einen gellenden Schrei aus. Die Götzenstatue begann zu kippen, neigte sich langsam nach vorn. Dann brach der Rumpf mit einem krachenden Geräusch auseinander. Im Fallen riss Svantevit die Vorhänge von der Decke, purpurfarbene Wellen ergossen sich über den Tempelboden. Mit lautem Getöse durchbrach der Götze die Vorderwand des Gebäudes und prallte dumpf und hart auf den Boden. Staub wirbelte auf, den der Wind davontrug.
Die Axt entglitt Helgis Hand, als er zum Eingang schaute.Ein riesiges Loch klaffte in der Wand; zerfetzte Bretter und purpurfarbene Tücher bedeckten den Teil Svantevits, der noch im Tempel lag.
Helgi stieg über den hölzernen Rumpf hinweg nach draußen, wo er sich Dutzenden fassungsloser Männer gegenübersah. Auf Höhe der vier Häupter kniete er neben Svantevit nieder. Unter der Statue quoll Blut hervor, und als die Umstehenden dies sahen, kreischten selbst gestandene Männer wie Kinder. Sie dachten, es sei das Blut ihres Gottes.
Doch es war Žilobogs Blut. Svantevit hatte sein Urteil gefällt, den Hohepriester unter sich begraben und zerschmettert.
Als Helgi sich wieder erhob, flogen vom Dach des benachbarten Stallgebäudes zwei Raben mit ausgebreiteten Schwingen davon.
Über dem Meer ging die Sonne unter, und der Wind schlief ein.
25.
Die Tage wurden kürzer, es war Spätsommer geworden. Ein goldener Herbst kündigte sich an. An den Bäumen verfärbte sich das Laub braun und gelb; zwischen welken Gräsern webten Spinnen ihre Netze, in denen sich der Tau fing. Die fetten Herbstheringe sammelten sich in den Boddengewässern zum Laichen.
Zwei Wochen nach jenem Tag auf Arkona sollte es am heutigen Abend ein großes Fest in Ralsvik geben. Man wollte eine Hochzeit feiern – und das Ende der Unterdrückung durch Žilobog und Tetĕslav. Die Leiche des Hohepriestershatte man verbrannt. Von Tetĕslav fehlte jedoch noch immer jede Spur, obwohl Hunderte Krieger die Insel nach ihm durchsucht hatten. Einige vermuteten, er habe es über den Sund aufs Festland geschafft; andere wähnten ihn noch immer auf Rujana, irgendwo in einem sicheren Versteck.
Doch an Tetĕslav dachte an diesem Abend, der ein Abend der Freude war, niemand.
Am westlichen Siedlungsrand hatte man jenseits der Kulthalle mannshohe Strohpuppen auf den Boddenstrand gestellt. Dazwischen reihten sich Tische aneinander, die mit Wacholder und Buchsbaumblättern geschmückt waren. Junge Mädchen trugen buntgemusterte Kleider; in ihre Haare hatte sie Blumenkränze geflochten. Ihre Mütter schleppten das Essen auf Holzplatten herbei. Ein herrlicher Duft breitete sich über der Festwiese aus. Trotz der schlechten Ernte hatten die Ranen ihre Vorratskammern für diesen Anlass weit geöffnet. Es gab gebratenes Fleisch von Wildschweinen und Hirschen, gebeizte Lachsfilets und – natürlich – geräucherte Heringe, außerdem Pilze, Beeren und fässerweise Honigwein.
Hunde flitzten zwischen den Mädchenbeinen umher. Über den Geräuschen des klappernden Geschirrs lag das befreite Lachen von Erwachsenen und Kindern. Bei Einbruch der Dunkelheit würde die Feier beginnen.
Es dämmerte bereits.
An einem der Tische saß Helgi.
Er war so aufgeregt wie selten zuvor. Seit dem Morgen hatte er seine Braut nicht mehr gesehen. Als er sie jetzt erblickte, wie sie sich dem Festplatz näherte, stockte ihm der Atem. Sie trug ein weißes Leinenkleid.
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