Das Buch der Sünden
vorhatten: Sie wollten sich in den Tempel schleichen, in das Heiligtum der Ranen. Könnt Ihr Euch das vorstellen? He! Habt Ihr mir überhaupt zugehört?»
«Was?» Ingvar konnte die Augen nicht von dem Ring lassen. «Wer ist dieses Mädchen?»
«Das sagte ich doch bereits, es gehört zu den Ranen», erwiderte Rustah unfreundlich. Doch dann änderte sich seine Stimmung schlagartig wieder. Er hatte einen ausgesprochen guten Blick für Leute, die sich für etwas interessierten – und die bereit waren, viel Geld dafür auszugeben.
«Sie ist noch unberührt», zischelte er Ingvar zu. «Ihr versteht schon, was ich meine. Ich habe es selbst gespürt, als ich mich ihr nähern wollte. Sie hat sich gewehrt. Obwohl unser Handel vorsah, dass sie mir während der Überfahrt die Zeit vertreibt und ich ihr dafür die Passage zahle.»
Rustah reckte das Kinn und strich sich über eine verschorfte Kratzwunde am Hals. «Das Weib hat spitze Fingernägel. Aber schaut sie Euch einmal an. Dieses blonde Haar, Ihr müsst es sehen, wenn es geöffnet es. Es reicht ihr fast bis an die Füße. Und wenn Ihr sie erst gezähmt habt, dann werdet Ihr sicher viel Freude an ihr haben.» Er kicherte leise.
Ingvars Kehle war wie zugeschnürt. Er hatte Helgis Ring wiedererkannt und musste unbedingt in Erfahrung bringen, woher diese Frau ihn hatte!
«Wie viel?», fragte er heiser.
«Dreißig Silberstücke», sagte Rustah blitzschnell. «Das ist geschenkt. So viel habe ich allein für die Überfahrt für sie gezahlt …»
«Dreißig Silberstücke», wiederholte Ingvar.
«Die Mauren würden mir den doppelten Preis dafür zahlen, mindestens sechzig Silbermünzen. Sie lieben Mädchen mit blonden Haaren.»
Ingvar dachte fieberhaft nach. Wo sollte er nur so viel Geld hernehmen? Odo hätte bestimmt eine solche Summe zur Verfügung gehabt.
Plötzlich zupfte Folke an Ingvars Kutte und deutete zum Rand des Marktplatzes, wo die alte Thora in dem Augenblick eine Decke ablegte. Sie nahm einen Weidenkorb vom Rücken und begann, Kräuter, Gräser, Pilze und Blätter auszubreiten.
Rustahs Miene verfinsterte sich. Offensichtlich glaubte er, Ingvar habe das Interesse an dem Mädchen verloren. Sofort wandte er sich einem älteren Paar zu, das an seinem Stand vorbeischlenderte.
«Ah, meine Freunde!», rief er ihnen zu. «Ich habe keine Mühen gescheut, um Euch die herrlichsten Stoffe zu bringen …»
Ingvar packte Folke am Arm und zog ihn schnell zur Kräuterfrau. Thora trug eine zerschlissene Tunika, ihr Gesicht war faltig, das Haar weiß und schütter. An ihrer Tunika klebten welke Blätter. Sie verbrachte viel Zeit in den Wäldern rings um Haithabu. Es hieß, sie kenne hier jeden Baum.
Als Ingvar sie ansprach, wühlte sie gerade in ihrem Weidenkorb nach weiteren Kräutern.
«Ein Priester soll dir gestern etwas abgekauft haben, Thora.»
«Hä?» Thora hörte schlecht.
Ingvar beugte sich zu ihr hinunter und rief ihr ins Ohr: «Ein Priester! Ein Munki! Er soll bei dir gewesen sein.»
«Ein Munki? Ja, ein großer Munki mit dunklen Augen.»
«Was wollte er?»
«Bilsenkraut und getrocknete Fliegenpilze.»
Ingvar erschrak. Das waren gefährliche Pflanzen, die bei falscher Dosierung eine tödliche Wirkung haben konnten.
«Wofür?», rief er.
Thora kicherte: «Vielleicht, um zu seinem Gott zu fliegen.»
«Wo ist er mit den Sachen hingegangen?»
Das Kräuterweib deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung des Weges, der am Sklavenviertel vorbei in den Wald südlich von Haithabu führte.
«Die alte Stadt …», murmelte Ingvar.
«Was?»
Ingvar tätschelte Thoras Schulter. «Danke für deine Hilfe. Ich werde dir später ein Brot bringen.»
«Was soll ich mit einem Boot, Junge? Sehe ich aus, als wollte ich Fische fangen?»
Ingvar forderte Folke auf, ihm zu folgen, und rannte los. Im Laufen schaute er noch einmal zu dem Stoffhändler zurück, der mit dem hellblonden Mädchen wieder allein an seinem Stand war und sehr finster dreinblickte.
Morgen, hatte er gesagt, wolle er abreisen.
4.
Nichts war geschehen!
Er hatte versagt. Gott hatte ihn als seinen Knecht auserwählt, doch er war unwürdig gewesen. Er hatte den siebten Dämon nicht gerichtet. Hatte sich das Buch entreißen lassen. Hatte das Paradies verloren.
Odo öffnete blinzelnd die Augen. Sonnenlicht sickerte durch die Ritzen zwischen den morschen Brettern. Es brach sich an dem Kreuz aus massivem Silber, das er auf den Schemel gestellt hatte, der ihm als Altar diente.
Der
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