Das Buch der Sünden
Brand hatte das Leben der Menschen in Haithabu verändert: Viele hatten ihre Existenz verloren, die ganze Stadt hungerte. Auch Odo hatte jegliche Hoffnung begraben müssen, diese Welt verändern zu können. Es war eine schwere Zeit für ihn gewesen. Eine Zeit, in der alles bedeutungslos geworden war – auch die Fertigstellung der Kirche. All das, woran er geglaubt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Und das Schlimmste war, dass er den Dämon hatte entkommen lassen. Dass er nicht in der Lage gewesen war, Gottes Prophezeiung zu erfüllen.
Odo seufzte. Nein, so wollte er nicht weiterleben. Auch wenn er wusste, dass es nicht in Gottes Sinne war, sehnte er die Finsternis herbei, die das Ende seines irdischen Daseins bedeuten würde.
Oh – ewige Dunkelheit, komm!
Als das Wasser im Topf über dem Feuer köchelte, warf Odo das Bilsenkraut hinein und gab die Handvoll Fliegenpilze hinzu. Anschließend streute er den restlichen Schlafmohn in den Sud, den er noch von der Zubereitungder Schlafschwämme übrig behalten hatte. Es zischte und gluckerte im Topf. Winzige Bläschen stiegen auf und zerplatzten an der Oberfläche.
Odo klappte die Holzkiste auf, nahm all seine Sachen heraus und legte sie behutsam vor den Altar, wobei er alles ordentlich sortierte: das Messer mit der beidseitig geschliffenen Klinge, die Zangen und eisernen Spieße, den schwarzen Umhang und die Reliquien seiner Mutter, den Fingerring und die feingliedrige Halskette mit dem Silberkreuz.
Dann wartete Odo.
Er beobachtete, wie die Sonnenstrahlen über den Boden krochen und nach einer Weile über das Kreuz wanderten. Er erinnerte sich an jenen Tag, an dem der Dämon ihm das Kreuz gebracht und vorgegeben hatte, es gegen Eisenbarren eintauschen zu wollen. Dabei hatte er nur eines im Sinn gehabt: sich ihm, Odo, zu offenbaren. Der Teufel hatte sein Spiel gespielt – und Odo war darauf hereingefallen. Der Dämon hatte sich ihm gezeigt. Er hatte Gottes Knecht aus der Deckung gelockt und ihn dann vernichtend geschlagen.
Odo hatte sein Leben verwirkt!
Er tauchte einen Becher in den Sud und roch an der Flüssigkeit. Ein widerlicher Gestank stieg ihm in die Nase. Er würde das Gebräu in kleinen Schlucken zu sich nehmen müssen, um es nicht gleich wieder zu erbrechen.
Odo schwenkte den Becher und pustete hinein, um den Trank etwas abzukühlen. Nach einer Weile nippte er vorsichtig und zuckte zurück. Seine Zunge und seine Lippen brannten. Er atmete tief ein, hielt die Luft an und zwang sich, einen Schluck zu nehmen.
In dem Moment knackte draußen ein Ast.
Odo stellte den Becher ab und lugte durch eine der Ritzen. Die Sonne schien, und es war noch immer helllichter Tag. Wahrscheinlich war noch nicht einmal der Nachmittag angebrochen.
Die verfallene Hütte, in die er sich zurückgezogen hatte, stand am Rande einer Waldlichtung. Ringsumher waren Überreste anderer Gebäude zu erkennen. Das Gelände bot Odo die Einsamkeit und Abgeschiedenheit, die er jetzt mehr benötigte als alles andere.
Da hörte er erneut ein Geräusch. Es war ein Reh, das auf die Lichtung gekommen war und schnuppernd die Nase hob, wobei es die Hütte beobachtete.
«Du kannst beruhigt sein», flüsterte Odo bei sich. «Ich tue dir nichts. Denn du bist rein und unschuldig.»
Das Reh senkte den Kopf in die trockenen Gräser und begann zu äsen.
Odo zog sich zurück und nahm einen weiteren Schluck.
Allmählich begann das Gift zu wirken. Vor Odos Augen veränderte das Silberkreuz seine Form. Es schien, als dehne es sich aus. Ja, es wuchs. Wurde größer und größer und schien bald bis an das Dach zu reichen, in dem ein großes Loch klaffte. Odos verwirrter Blick fiel auf den blassblauen Himmel darüber, während das Loch die Form eines riesenhaften Auges annahm.
Er murmelte: «Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen, auch die, welche ihn durchstochen haben …»
Immer stärker breitete sich eine angenehme Leichtigkeit in seinem Körper aus. Odo fühlte sich zurückversetzt in die Kathedrale seiner Kindheit, Saint Etienne. Er war sich sicher, die Stimme des Priesters Jakob zu hören. Sowie damals, an jenem Tag, an dem die Normannen den Tod nach Paris brachten.
Der König dieser Heuschrecken ist der Engel aus dem Abgrund,
rief Jakob,
er heißt: der Verderber.
Plötzlich drangen andere Stimmen in Odos Bewusstsein. Zunächst leise und weit entfernt, dann immer deutlicher. Saint Etienne verblasste.
Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Was war los? Sein
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