Das Buch der Sünden
Blick war so verschwommen wie seine Gedanken. Er hatte doch erst einen kleinen Schluck von dem Gift genommen.
Da waren die Stimmen erneut! Odo erstarrte. Hatte nicht gerade jemand seinen Namen gerufen?
Er kroch wieder zum Spalt in der Wand hinüber. Das Reh verharrte noch immer am selben Fleck. Aber es äste nicht mehr, sondern hatte den Kopf gehoben und die Ohren wachsam aufgestellt. Mit einem Mal schoss es davon und verschwand im Unterholz.
Und Odo hörte erneut die Stimme. Aber nein, es war nicht eine, es waren zwei verschiedene Stimmen, eine hohe und eine tiefere.
«Priester Odo?»
«Vater, wo seid Ihr?»
Im Wald knackten Äste. Dann traten zwei Gestalten zwischen den Bäumen hervor. Odo stöhnte. Es waren Folke und der Kammmacher.
Odo traten Tränen in die Augen. Warum konnten sie ihn nicht das vollenden lassen, wozu er gezwungen war? Wie hatten sie ihn nur gefunden?
Oder hatte der Herrgott sie geschickt?
5.
Der Südländer und das Mädchen waren bereits aufgebrochen, als Odo, Ingvar und Folke am späten Nachmittag den Marktplatz von Haithabu erreichten. Die anderen Händler, die nach Westen weiterreisen wollten, waren damit beschäftigt, ihre Waren einzupacken, und verluden Kisten, Fässer und Taschen auf Ochsenkarren.
Sie kamen zu spät! Odo fluchte innerlich.
Als der Kammmacher ihm von dem blonden Mädchen mit dem Ring berichtet hatte, war sein Rausch schlagartig vergangen. Die Beschreibung des Dänen ließ keinen Zweifel zu: Der Dämon versteckte sich auf der Slaweninsel. Das konnte nur bedeuten, dass Gott seinen Knecht doch nicht aufgegeben hatte. Odo sollte eine letzte Gelegenheit erhalten – und die würde er nutzen!
Er hatte Ingvar und Folke erzählt, dass er gebetet habe, sehr lange und in Einsamkeit. Ein Zwiegespräch – nur er und der Allmächtige. Sie hatten nicht weiter nachgefragt, aber ihren Blicken war anzumerken, dass sie Zweifel hegten. Odo hatte sich bemüht, sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen, als der Name Helgi fiel. Er hatte Ingvar versprochen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um ihm bei der Suche nach seinem Freund zu helfen. Denn, so betonte Odo, dies sei ein selbstverständlicher Akt christlicher Nächstenliebe.
Auf dem Markt sprach Odo einen Lederwarenhändler an, der gerade Gürtel, Stiefel und Kappen auf einem Karren verstaute. Sie erfuhren, dass Ibrahim Ibn Rustah bereits kurz nach Mittag zum Treenehafen aufgebrochen war.
«Wie weit ist es bis zu diesem Ort?», fragte Odo, als sie wieder unter sich waren.
«Vierzehn Meilen», erwiderte Ingvar.
«Also ein guter Tagesmarsch, wenn wir uns beeilen.»
Ingvar nickte.
Odo schaute zur Sonne, die sich bereits dem Horizont zuneigte. Sie würden die ganze Nacht laufen müssen, um den Hafen vor dem Morgengrauen zu erreichen. Jetzt, im Herbst, legten die Schiffe morgens sehr früh ab, damit sie die kürzer gewordenen Tage für die Reise voll nutzen konnten. Viel Zeit blieb ihnen nicht. Allerdings war die Schifffahrt auf der Treene von den Gezeiten abhängig, denn der Fluss mündete ins Nordmeer.
Vielleicht haben wir Glück, dachte Odo, und die Abfahrt wird sich wegen der Ebbe hinauszögern. Dann könnten wir es schaffen.
Er schulterte die Tasche, in die er vorhin das Silberkreuz und seine Kiste gepackt hatte.
«Wollt ihr auf dem Ochsenkarren mitfahren?», fragte der Lederhändler. «Für eine Silbermünze pro Nase nehme ich euch mit.»
«Mit welchem Schiff fährst du?», entgegnete Odo.
Der Franke kratzte sich am Kopf, wobei seine Lederkappe seitlich herunterrutschte. «Ich werde frühestens übermorgen abreisen. Bis morgen schaffe ich es nicht mehr.»
«Aber wir werden es schaffen!»
Sie liefen los. Der Lederhändler schaute ihnen hinterher, zuckte mit den Schultern und gab dem Ochsen die Peitsche.
Ingvar wunderte sich über den Eifer, den der Priester plötzlich an den Tag legte. Er schien wie ausgewechselt zusein, nachdem er in den vergangenen Wochen und Monaten kaum noch ansprechbar gewesen war.
Aber Ingvar sagte dazu nichts. Schließlich war Odos Hilfe ganz in seinem Sinne.
Sie folgten dem ausgebauten Handelsweg, der sie nach Westen führte.
Die Sonne ging gerade unter, als sie in der Nähe eines Sees auf den alten Verteidigungswall stießen. Das Bauwerk war etwa sieben Fuß hoch, die Front durch einen Graben und die Kuppe mit Holzpalisaden gesichert. Der Wall war vor etwa einhundert Jahren zum Schutz gegen die Sachsen und Franken errichtet worden. Inzwischen hatte Haithabu jedoch an
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