Das Buch der Sünden
gut war. So wie Anatrog, der mit jedem Schluck streitsüchtiger wurde. Helgi beobachtete dies mit Sorge.
Als die Feier sich bereits dem Ende zuneigte und die ersten Männer mit den Köpfen auf den Tischen eingeschlafen waren, beschlossen Helgi und Damek zu gehen.Doch da wankte der Wojwode von Ghynxt zu ihrem Tisch hinüber, baute sich breitbeinig vor ihnen auf und fuchtelte mit seinem Trinkhorn herum, als wolle er Fliegen verscheuchen. Dann schüttete er Helgi unvermittelt einen Schwall Wein ins Gesicht. Die umsitzenden Männer hielten den Atem an.
Helgi zögerte, begann dann aber, sich den klebrigen Wein abzuwischen. Anatrog hatte ihm einen guten Grund für einen Streit gegeben. Doch Helgi wollte sich nicht provozieren lassen. Er war glücklich, dass Ratibor ihn anerkannte, und wollte alles vermeiden, was schlechtes Licht auf ihn warf.
«Verräter!», brüllte Anatrog.
Augenblicklich verstummten die Gespräche im ganzen Zelt.
Damek schnellte hoch. «Verschwinde! Trink, wenn du trinken willst. Aber belästige keine ehrenwerten Männer.»
Doch Anatrog beachtete den Zauberer nicht. «Er ist ein Verräter! Ein dänischer Verräter!»
Da dröhnte die Stimme des Königs durch das Zelt. «Was hast du gegen den Wojwoden von Ralsvik vorzubringen, Anatrog? Sprich jetzt – oder schweig!»
Anatrog wandte sich zum König um. «Die Dänen sind unsere Feinde. Sie sind es immer gewesen und werden es immer bleiben! Ich traue diesem Hundesohn nicht weiter, als ich pissen kann.»
«Dann solltest du nicht immer gegen den Wind pissen», fuhr Damek dazwischen.
Ratibor bat um Ruhe. «Was redest du da, Anatrog? Der Wojwode soll ein Verräter sein? Es hat lange keinen Krieg mit den Dänen gegeben. Hast du Beweise?»
Anatrog setzte das Trinkhorn an. Doch er hatte bereits den ganzen Wein verschüttet. «Nein, die habe ich nicht», knurrte er. «Noch nicht!»
Dann schleuderte er das leere Horn wutentbrannt gegen die Zeltwand. Ratibor gab einigen Kriegern, die den Eingang bewachten, einen Wink. Aber Anatrog verließ ohne ein weiteres Wort das Königszelt.
Ratibor ließ Helgi zu sich kommen, beugte sich in seinem Thron vor und ergriff Helgis Hand. «Anatrog ist nicht bei Sinnen. Morgen wird Svantevit uns ein gutes Orakel verkünden, und dann wird sich Anatrog wieder beruhigen.»
Helgi rang sich ein zustimmendes Lächeln ab. Doch er musste wieder an den Dänen denken, der sich nach der Tempelburg erkundigt hatte, und Anatrogs Vorwurf, die Dänen seien die Feinde der Ranen, erschien mit einem Mal gar nicht mehr so unwahrscheinlich.
3.
Helgi durchlebte eine schreckliche, von Albträumen geplagte Nacht. Kaum dass er weggedämmert war, wachte er wieder auf und wälzte sich auf den Fellen hin und her. An seiner Seite schnarchte Damek, dass sein Schnurrbart zitterte.
Immer wieder wanderten Helgis Gedanken zu Teška, die in dieser Nacht allein in ihrem gemeinsamen Heim schlafen musste. Ob seine schwangere Frau die nötige Ruhe fand?
Aber es war nicht die Sorge um Teškas Schwangerschaft allein, die Helgi vom Schlaf fernhielt. Nein, wasihn bedrückte, war das Gefühl, plötzlich ein Fremdkörper zu sein. Heute war ihm zum ersten Mal, seit Ratibor ihn als Wojwoden eingesetzt hatte, Feindseligkeit entgegengeschlagen. Trotz der gutgemeinten Worte des Königs befürchtete Helgi, dass nicht nur Anatrog ihn hasste.
Was würde geschehen, wenn von den Dänen Gefahr drohte? Wenn dänische Víkingr Handelsschiffe angriffen? Würde man dann nicht ihn dafür mitverantwortlich machen? Und nicht nur ihn, sondern auch Teška und das Kind?
Für einen Augenblick schob sich ein anderer Gedanke in Helgis Grübeleien. Er erinnerte sich an den Fluch, den Teškas Schwester Žiliška ausgestoßen hatte. Das Bild des Mädchens mit dem hellen Haar tauchte vor seinem inneren Auge auf. Er sah, wie es Teška verfluchte.
Aber nein!
Nein! Das war doch alles nur Einbildung! Teška hatte ihm versichert, dass ihre Schwester nicht die Gabe hatte, einen solchen Fluch auszusprechen. Das Kind würde lebend und gesund zur Welt kommen. Die meisten Menschen hier respektierten und mochten Helgi. Sie hatten nicht das Gefühl, von den Dänen könne Gefahr ausgehen. Die wenigen Gerüchte, die nach Rujana gelangt waren, besagten, dass König Horick der Jüngere für einen Krieg gegen die Sachsen in England rüstete und dass Hovi, der verrückte Jarl von Haithabu, die Stadt Rom angreifen wollte. Aber …
Helgi setzte sich abrupt auf und schlug das Fell, unter dem er
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