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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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entgehen lassen.
    Auf einem Stein unterhalb des nördlichen Kathedralenturms standen zwei Mönche, die den vorüberziehenden Menschenstrom beobachteten. Sie trugen gewachste Kutten, deren Kapuzen sie vor dem Regen schützten. Einer der beiden war der Mönch Notkar Balbulus, den man den Stammler nannte; der andere war Iso, der Schreiblehrer des Klosters.
    Seit Stunden erwarteten sie ungeduldig das Erscheinen des Bischofs Salomon von Constantia.
    «Da!», rief Iso plötzlich und wies zur äußeren Klostermauer.
    Notkar lugte unter seiner Kapuze hervor.
    Ein Ochsenkarren rumpelte über den Weg. Er wurde begleitet von einer Schar Soldaten, die eine Schneise in die Menge drängten. Der Bischof saß unter einem gespannten Stoffdach, das den Regen fernhielt. Der Geistliche trug einen kostbaren roten Mantel, dessen Kragen mit weißen Hermelinpelzen besetzt war. Darüber schimmerte Salomons breites Gesicht durch den Regenschleier.
    «Er ist noch fetter g-g-geworden», stellte Notkar leise fest.
    «Soll er ruhig», erwiderte Iso. «Hauptsache, er erfüllt uns endlich unseren sehnlichsten Wunsch.»
    Die Mönche von Sankt Gallen hatten lange darauf gewartet, dass Otmar, der Gründer und frühere Abt des Klosters, heiliggesprochen wurde. Genau dies sollte heute endlich geschehen.
    «Ob der Bischof Otmars R-r-reliquien mitgebracht hat?», fragte Notkar.
    «Ich hoffe es doch sehr», sagte Iso. «Durch die Translation der Reliquien könnten wir nach Otmars Kanonisierung die neue Grabkirche bauen. Das würde die Pilger zu Tausenden anlocken und uns eine weitere Einnahmequelle sichern.»
    «Vielleicht könnten wir dann endlich den Nordturm ausbessern lassen», warf Notkar ein und schaute besorgt zu dem Bauwerk hinauf, das neben ihnen in den grauen Himmel ragte.
    Iso nickte. «Es wäre nötig. Wenn nicht bald etwas geschieht, stürzt der Turm noch eines Tages ein.»
    Da rollte von ferne ein anhaltender Donner heran.
    «Weiter oben in den Bergen soll es bereits Erdrutsche ge-ge-gegeben haben», sagte Notkar.
    «Der viele Regen hat die Erde aufgeweicht», bestätigte Iso.
    «Aber unser T-t-turm wird doch halten?»
    «Selbstverständlich. Nun, ich meine natürlich: so Gott will.»
    Notkar warf erneut einen sorgenvollen Blick zum Nordturm hinüber. Er hätte sich von seinem Lehrmeister eine zuversichtlichere Antwort gewünscht.
    Der Ochsenkarren des Bischofs hatte unterdessen das Portal der Kathedrale erreicht. Salomons Diener machten sich bereit, ihren Herrn die letzten Schritte zu tragen, damit seine Lederstiefel nicht mit Schlamm besudelt wurden.
    Iso stieg vom Stein herunter und stapfte in Richtung der Klosterpforte davon. Im Gegensatz zu den Besuchern betraten die Mönche ihre Kathedrale nicht durch das Portal, sondern meist über den Kreuzgang.
    Notkar blieb zurück und beobachtete, wie die Diener den Bischof schleppten. Dessen Gewicht schien sich durch den schweren Mantel und die glitzernden Silberketten verdoppelt zu haben. Dennoch schafften es seine Männer, ihn sicher auf der Steintreppe abzusetzen. Salomon raffte seinen Mantel und stampfte eilig in die Kathedrale.
    Notkar wollte sich gerade abwenden, als er in der Menschenmenge einen Mann erblickte, der über alle anderen hinausragte und unter seiner Kapuze hervor in Notkars Richtung starrte. Als sich ihre Blicke trafen,winkte der Mann ihm zu. Instinktiv hob Notkar ebenfalls die Hand.
    Der Mann kam näher. Hinter sich zog er an einem Strick einen abgemagerten Esel, auf dessen Rücken eine unter Decken verhüllte Gestalt kauerte. Der Mann machte einen verwahrlosten Eindruck. Sein Mantel triefte vor Nässe, sein Gesicht war schmutzig und von einem struppigen, schwarzen Bart überwuchert.
    Wenige Schritte vor dem Stein hielt er an. Als der Esel sich schüttelte, stöhnte die Gestalt und krümmte sich wie unter starken Schmerzen.
    Notkar sagte: «Wenn Ihr den Gottesdienst besuchen möchtet, Fremder, dann betretet die Kathedrale bitte durch das Tor, so wie alle anderen.»
    Der Mann neigte flüchtig das Haupt und nahm die Kapuze ab. Als er wieder aufblickte, schüttelte er den Kopf. «Führt mich zu Eurem Subprior, Bruder Notkar!»
    Notkar stutzte. Der Mann kam ihm bekannt vor. Diese Stimme. Diese dunklen Augen. Dieser zwingende Blick. Aber es wollte ihm nicht einfallen, wo er den Mann schon einmal gesehen hatte.
    «Wer seid Ihr?», fragte Notkar.
    «Erinnert Ihr Euch nicht an mich? Vor einiger Zeit sind wir uns hier begegnet. Ich bat Euch damals, mir Eure Bibliothek zu zeigen.»
    Da

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