Das Buch der Sünden
dämmerte es Notkar. Der Fremde war der Mönch, der aus dem Kloster Saint Geneviève im Westen stammte. Aber wie lautete noch sein Name? Odo? Ja, Odo von Lutetia. Der kurze Besuch des Mannes war für Notkar mit äußerst unangenehmen Erinnerungen verbunden – und das nicht nur wegen des Rasiermessers, das dieser ihm nicht zurückgegeben hatte. Nachdem Odo aufgetaucht war,hatte es große Unruhe gegeben. Wie aus heiterem Himmel hatten die römischen Legaten, die damals zu Besuch waren, die Gallener Mönche beschuldigt, ein Buch gestohlen zu haben. Ihre Soldaten hatten daraufhin das ganze Kloster auf den Kopf gestellt. Doch sie waren schließlich unverrichteter Dinge wieder abgereist.
Notkar hatte sich damals gefragt, wo der Bruder aus Geneviève nach diesen Ereignissen abgeblieben war. Er hatte den Verdacht gehegt, dass der Fremde etwas mit dem Verschwinden des Buches zu tun hatte.
«Ihr seid damals sehr p-p-plötzlich aufgebrochen, Bruder», erinnerte sich Notkar.
«Ich war nur auf der Durchreise», erwiderte der Mönch.
«Heute habe ich leider überhaupt k-k-keine Zeit für Euch», sagte Notkar schnell. «Ihr habt ja gesehen, was hier los ist. Bischof Salomon von Constantia wird unseren Gründerabt O-o-otmar heiligsprechen.»
Er stieg schnell vom Stein herunter und wandte sich zum Gehen.
Ein vages Lächeln huschte über Odos dunkles Gesicht. «Das freut mich für Euch und für Eure Brüder. Aber Ihr werdet mir dennoch helfen müssen.»
«Warum?», erwiderte Notkar und blieb stehen. Der fordernde Tonfall in der Stimme des Mannes gefiel ihm überhaupt nicht.
«Weil ich etwas habe, das Euer Subprior ganz bestimmt vermisst.»
Notkar schnappte nach Luft. «Das B-b-buch …», raunte er heiser, «
Ihr
habt es also genommen …»
Odo schaute sich schnell nach allen Seiten um. Noch immer drängten Menschen in die Kathedrale, die bald bisauf den letzten Platz gefüllt sein musste. Aber niemand beachtete die beiden Männer oder die Gestalt auf dem Esel.
«Ihr seid ein D-d-dieb!», stieß Notkar hervor. «Die Legaten hätten uns damals beinahe umgebracht, so w-w-wütend waren sie. Es hieß, das Buch sollte an P-p-papst Nikolaus gehen.»
«Nein», entgegnete Odo scharf. «Das Buch war für mich bestimmt – für mich ganz allein!»
Notkar stemmte die Fäuste in die Hüften. «Ihr glaubt doch nicht w-w-wirklich, dass ich ein zweites Mal einen solchen Fehler begehe und einen Dieb in das K-k-kloster einschleusen werde!»
Ein unangenehmes Grinsen zeichnete sich auf Odos Gesicht ab. «O doch! Genau das werdet Ihr tun. Vergesst nicht: Ohne Euch hätte ich das Buch niemals entwenden können. Schließlich habt Ihr mir das Rasiermesser gegeben, mit dem ich die Kiste öffnen konnte. Was würden wohl Eure Klosteroberen dazu sagen, wenn sie das wüssten?»
Notkar war entsetzt.
Die Schlange vor dem Portal der Kathedrale wurde immer kürzer. In wenigen Augenblicken würde der Gottesdienst beginnen.
«Subprior R-r-raban befindet sich in der Kathedrale, so wie alle anderen Mönche auch», sagte Notkar leise.
«Aber das Hospiz wird doch wohl besetzt sein.» Odo deutete zu der Gestalt auf dem Esel. «Hier ist jemand, der ärztlicher Hilfe bedarf.»
«Wer ist d-d-das?»
«Stellt nicht so viele Fragen», zischte Odo ungehalten. Regenwasser tropfte aus seinem Haar, und er wischte sich mit einer flüchtigen Bewegung über die Augen.
Ich habe keine andere Wahl, dachte Notkar verzweifelt. Er wandte sich der Pforte zu. «F-f-folgt mir.»
Odo half der Gestalt vom Esel hinunter. Dabei verrutschte die Decke, unter der das schmerzverzerrte Gesicht einer Frau zum Vorschein kam. Sie stieß einen spitzen Laut aus und griff sich an den gewölbten Bauch. Rasch bedeckte Odo sie wieder.
Notkar erstarrte. Der Fremde zwang ihn, ein schwangeres Weib ins Kloster zu schmuggeln. Beim heiligen Benedikt – dieser Mann war sein Unglück!
2.
Notkar öffnete die Pforte, um die beiden hindurchzulassen. Odo stützte die Schwangere beim Gehen. Sie hatte sich wieder in die Decke gehüllt, stöhnte aber bei jedem Schritt so laut, dass Notkar das Schlimmste befürchtete. Doch es war niemand in der Nähe, der sie hätte aufhalten können.
Odo blieb Notkar dicht auf den Fersen, während sie an der Nordseite der Kathedrale entlang durch den Matsch stapften. Hinter dem Gotteshaus befand sich der Bereich, der der Versorgung der Kranken diente. In den Gebäuden waren der Krankentrakt, die Wohnung des Arztes, das Haus für den Aderlass sowie eine kleine
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