Das Buch der Sünden
auf den Friedhof. Zwischen den Gräbern standen kahle Apfel-, Birn- und Pflaumenbäume, deren Äste wie Gerippe durch den Regenschleier schimmerten. Odo studierte die Inschriften einiger Kreuze.
Allmählich verdunkelte sich der graue Tag.
Odo zog sich in einen abgelegenen Winkel des Friedhofs zurück und schaute sich um. Niemand beobachteteihn. Er öffnete den Beutel, den er die ganze Zeit über bei sich getragen hatte.
Annähernd acht Wochen hatte die Reise gedauert. Gott hatte in all der Zeit die schützende Hand über seinen Knecht gehalten. Nach seiner Flucht aus Ralsvik und der Fährfahrt über den Sund war Odo pausenlos geritten, das schwangere Weib vor sich im Sattel, auf einem Pferd, das er einem slawischen Bauern abgenommen hatte. Ohne Zwischenfälle hatten sie das Slawenland durchquert. Auf der Hammaburg hatte er das Pferd an einen Rossschlachter verkauft und mit dem Geld eine Schiffspassage bezahlt, die sie über die Elbe, das Nordmeer und den Fluss Weser bis zur Klosterstadt Fulda führte. Als sie das Schiff in Fulda verlassen hatten, setzte der große Regen ein. Auf den aufgeweichten Wegen war das schwangere Weib immer wieder ausgerutscht, und Odo hatte für sein letztes Geld einen Esel erstanden. Er hatte es nicht riskieren können, dass die Frau gebar, bevor sie das Kloster erreichten. Von Fulda aus waren sie einem Pilgerweg gefolgt, der sie an Städten und Burgen vorbeiführte, die man Swinfurdin, Wirziburg oder Ulma nannte. Sie hatten den riesigen See überquert, an dessen Ufern gewaltige Berge in den Himmel ragten.
Und endlich hatten sie das Kloster erreicht.
Nun stand die Geburt unmittelbar bevor. Odo musste nur noch das verbrannte Buch gegen ein intaktes Exemplar eintauschen – und den Dämon vernichten.
Er schloss die Augen. Leise sagte er: «Und das Meer und das Totenreich und der Tod werden die Toten herausgeben – und sie werden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken! Wenn jemand nicht im Buch des Lebens gefunden wurde, so wird der Herr ihn in den Feuersee werfen.»
Er öffnete die Augen wieder.
«Ich … sehe einen neuen Himmel und eine neue Erde. Und Gott wird bei mir wohnen, wenn der Verderber gerichtet ist.»
Er nahm das Messer aus der Kiste und versteckte es unter seiner Kutte. Dann verließ er den Friedhof und kam am Novizentrakt vorbei, an den sich das Hospiz anschloss.
Schon von weitem hörte er aufgeregte Stimmen. Als er näher kam, sah er in der Dunkelheit etwa ein Dutzend Mönche vor dem Eingang zum Krankentrakt stehen. Sie hatten das Abendgebet gerade beendet. Odo war bewusst, dass inzwischen das ganze Kloster von der Schwangeren erfahren hatte. Aber dies musste er in Kauf nehmen, und es würde ihn nicht daran hindern, Gottes Werk zu vollenden.
Verborgen hinter einer Ecke, belauschte er das Gespräch der Mönche. Er erkannte die Stimme des Abts Grimald, der auf einen schmalen Mann einredete, der offenbar der Arzt war.
«Liutolf meinte, ein Fremder habe die Frau in das Kloster gebracht», sagte der Arzt.
«Aber wie ist er hereingekommen?», wollte Grimald wissen.
Der Arzt zuckte mit den Schultern.
«Hast du die Frau untersucht?», fragte Grimald.
«Ja, Vater. Ihr Zustand ist sehr bedenklich. Sie hat keine Kraft mehr. Ihr Körper ist völlig ausgezehrt. Es scheint, als habe sie große Strapazen hinter sich.»
«Wird sie das Kind zur Welt bringen können?»
Der Arzt ließ sich Zeit mit einer Antwort. Schließlich sagte er: «Ich denke ja. Aber es könnte sein, dass die Frau die Geburt nicht überlebt.»
«Hm. Hat sie irgendetwas gesagt? Hat sie Angehörige, Menschen, die man nach ihrem Tode benachrichtigen sollte?»
«Das weiß ich nicht. Aber manchmal schien es mir, als wollte sie mir etwas mitteilen. Doch ich kann sie nicht verstehen. Sie redet in einer merkwürdig fremden Sprache, die ich niemals zuvor gehört habe.»
Grimald nickte nachdenklich. Dann wandte er sich an die Mönche. «Brüder, es will mir scheinen, als sei die bevorstehende Geburt ein Zeichen Gottes, denn heute ist ein bedeutender Tag für unser Kloster. Eine Frau, die kurz vor der Entbindung steht, ist von weit her zu uns gekommen. Also werden wir uns um sie kümmern. Wenn sie einen Knaben gebärt, so wollen wir ihn bei uns aufnehmen – und ihm den Namen Otmar geben.»
Die Mönche tuschelten. Sie konnten es kaum erwarten, einen Blick auf die Schwangere zu werfen.
Odo harrte aus, bis die Mönche im Krankentrakt verschwunden waren. Dann schlug er den Weg zu Rabans Zelle ein, die sich
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