Das Buch der Sünden
so laut, dass er befürchtete, sie könnte es hören.
Die Sklavin schloss die Tür zu Gizurs Haus hinter sich und trat in die Gasse.
Helgi betrachtete sie eingehend. Ihre Lippen waren voll und rot, und ihr ebenmäßiges Gesicht hatte hohe Wangenknochen und schmale Augen. Aber auf dem von Kohlenstaub verschmierten Gesicht lag ein Schatten, der nicht vom Schmutz der Arbeit herrührte, sondern von ihrer Trauer. Dennoch fand Helgi, dass die Frau in ihren grazilen Bewegungen eine Würde ausstrahlte, die einer Königin zur Ehre gereicht hätte.
Als sie sich auf Höhe des Fensters befand, rief Helgi leise nach ihr.
Sie blieb abrupt stehen und schaute verwundert in seine Richtung.
Helgi steckte seinen Arm durch das Fenster und reichte ihr die kleine Figur. Als die Sklavin jedoch einen Blick darauf warf, verfinsterte sich ihr Gesicht noch mehr, und ihre dunklen Augen funkelten Helgi böse an. Mit einem Kopfschütteln setzte sie ihren Weg fort.
Helgi blieb erschüttert zurück. Sie hatte sein Geschenk mit einem so strafenden Blick bedacht, als wäre er ihr schlimmster Feind. Was hatte er nur falsch gemacht?
12.
Aus Folkes Umhängebeutel drang ein ekelhafter Gestank.
Die anderen Jungen umringten den Knaben, schubsten ihn zwischen sich hin und her und riefen: «Folke stinkt! Folke stinkt nach Fisch!»
Folke suchte vergeblich nach einer Möglichkeit, seinen Peinigern zu entwischen. Fünf gegen einen – was für eine Ungerechtigkeit! Tränen schossen ihm in die Augen. Er flehte sie an, ihn in Ruhe zu lassen. Doch sein Jammern spornte die anderen nur noch weiter an.
«Folke stinkt! Folke stinkt nach Fisch!»
In seiner Verzweiflung griff Folke in den Beutel, in den er seine Kutte gestopft hatte, als er sie vor dem Baden abgelegt hatte. Seine Finger ertasteten eine glitschige Masse. Jemand hatte ihm etwas in den Beutel getan, während er auf das Noor hinausgeschwommen war, um sich abzukühlen.
«Stinker! Stinker!» Die anderen Jungen ließen keine Ruhe.
Folke zog seine Hand aus dem Beutel. Entgeistert betrachtete er den vergammelten Brachsen.
«Friss ihn doch – du Stinker!», brüllte einer der Jungen. Es war Geri, ein kräftiger, ungehobelter Kerl. Die anderen Knaben schlugen sich vor Lachen auf die Schenkel.
Da packte Folke die Wut. Er schleuderte den Fisch in Geris Richtung. Aber der hatte die Attacke vorausgesehen und duckte sich.
Urplötzlich verstummte das höhnische Gelächter, als die Jungen den Priester bemerkten, der von dem Lärm angelockt um die Ecke der Holzkirche gerannt kam.
Der Fisch hatte die Kutte des Mannes getroffen und darauf einen schleimigen Abdruck hinterlassen. Für einen Moment blitzten die Augen des Priesters böse auf. Aber gleich darauf entspannten sich seine Züge wieder. Er wischte mit einer beiläufigen Bewegung die Schuppen vom Umhang und hob den Fisch mit spitzen Fingern vom Boden auf.
«Folke hat ihn geworfen», sagte Geri.
Odo ließ den Brachsen wieder fallen. «Und wer hat den Fisch in seinen Beutel gesteckt?»
Die Jungen starrten auf ihre Füße.
«Ich frage euch noch einmal – wer von euch hat diesen Fisch in Folkes Beutel getan?»
Alle Blicke richteten sich nun auf Geri, der verlegen seine Hände knetete. Mit einem Schritt war Odo bei ihm und drehte ihm das Ohr um.
«Aua», schrie Geri. «Die anderen haben gesagt, dass ich das tun soll!»
Odo ließ Geri frei. Er schickte die Jungen ins Gemeindehaus, wo sie zur Strafe zehn Vaterunser beten sollten. Nur Folke blieb zurück.
«Ihre Natur verlangt es von ihnen», sagte Odo zu dem Knaben, als sie allein waren. «Diese Burschen sind noch wild und ungestüm. Aber die Zeit bei uns wird sie zähmen. Wenn sie erst getauft sind, werden sie zur Besinnung kommen. Auch du warst so wild, als du zu uns kamst, Folke.»
Der Junge schob die Unterlippe vor. «Aber so gemein war ich nie.»
Vor einem Vierteljahr hatte Folkes Vater, ein verarmter Bauer aus der Gegend um Haithabu, den Jungen der Christengemeinde übergeben. Er hatte seinen Sohn nachdem Tod der Mutter nicht alleine durchbringen können. Wie viele andere Männer befürchtete der Bauer wegen der anhaltenden Trockenheit eine Missernte. Daher hatte er sich entschlossen, sein Hab und Gut zu verkaufen, um sich dafür ein als Sax bezeichnetes Kurzschwert, eine Axt und ein Schild zu besorgen. Er wollte sich den Soldaten des Jarls Hovi anschließen und am Krieg teilnehmen. Und da war für den acht Jahre alten Folke kein Platz mehr.
Die Gemeinde hatte sich des Jungen angenommen.
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