Das Buch der Sünden
Schaulustigen stöhnten. Egil übergab den Alten seinen Kriegern, die ihn sogleich fesselten und knebelten.
Als wieder Ruhe eingekehrt war, baute sich Egil vor der Menge auf. «Viele von euch haben bestimmt geglaubt, hier seien unheimliche Mächte am Werke. Ihr habt geglaubt, dass diese Mächte unseren Jarl von seinem Krieg abbringen wollen. Niemand kann euch das verdenken. Auch wir, eure Beschützer und Herren, sind nicht immer ohne Zweifel. Aber Hovis Krieg ist gerecht, und unser großer Jarl wird siegen!»
Der Hofðingi schaute in die Runde. «Der oberste Kriegsherr Odin hat unserem Jarl den Auftrag für den Krieg gegeben. Er wird in das Mittelländische Meer fahren, um mit den Tapfersten der Tapferen gegen die Stadt Rom zu ziehen. Die Straßen dieser Stadt sind gepflastert mit Gold und Silber. Die Weiber sind schön und dunkel. Reichtum, Ruhm und Ehre gebühren jedem, der sich Hovi anschließt! Und er, der den größten Ruhm auf sich vereint, wird eines Tages der neue König sein. Unser Hovi! Kommt zu den Waffen, Männer!»
Egil deutete auf die Esche. «Lasst euch nicht verunsichern durch einen geschlachteten Mann. Ich habe den Mörder überführt. Es war nicht das Werk der Götter.»
Er breitete die Arme aus, als wolle er alle Menschen umarmen. «Der nächste König wird Hovi sein! Und jeder, der ihm folgt, soll reich belohnt werden. Denn Odin – Odin! – hat Hovi auserwählt!»
In dem Moment knackte ein Ast. Die Menschen, die gebannt Egils Worten gelauscht hatten, fuhren vor Schreck zusammen. Dann folgte ein lautes Krachen. Dicht hinter dem Bluttrinker schlug zunächst die Leiche auf dem Boden auf, dann der Ast, an dem der Tote gehangen hatte. Mit einem langgezogenen Schrei stürzte Draupnir hinterher und landete direkt auf der Leiche. Die Knochen des Toten brachen unter dem Gewicht des Bärenmannes wie trockene Zweige.
Ob es nun ein Zeichen der Götter war oder nicht – dieser Vorfall war endgültig zu viel für die Menschen. Wie aufgeschreckte Hühner liefen sie über die Wiese davon.
Helgi, der der fliehenden Menge folgen wollte, schaute sich nach Ingvar um. Doch sein Freund war bereits verschwunden. Helgi griff nach seinen Eimern.
Gullweig wartete bestimmt schon ungeduldig auf das Wasser.
11.
Helgi betrat das Haus durch den Hintereingang.
Seine Mutter hockte mit einem Messer in der Hand vor der Ziege, die kaum noch genug Kraft hatte, um den Kopf aufrecht zu halten.
«Sie stirbt», sagte Gullweig und forderte Helgi auf, das dürre Tier bei den Hörnern zu packen. Er sollte es festhalten, damit sie ihm die Kehle durchschneiden konnte.
Helgi stellte die Eimer ab und kniete neben der Ziege nieder, die sie vor sieben Wintern gekauft hatten und die ihnen seither viel Milch gegeben hatte.
«Wir könnten sie doch mit Eicheln füttern», schlug Helgi vor. Zärtlich strich er über das weiße Fell. Die Ziege war ihm ans Herz gewachsen.
«Nein. Die Eicheln brauchen wir selbst», erwiderte Gullweig.
Sie hatte eine Holzschüssel zurechtgestellt, um darin das Blut aufzufangen. Zusammen mit dem Fleisch würde sie später daraus Blutwurst machen.
«Aber wenn Einar den Auftrag bekommen hat, könnten wir doch wieder Futter kaufen», warf Helgi ein.
«Ich hab bereits gesagt, dass sie stirbt», entgegnete Gullweig nüchtern.
Helgi überwand sich und packte die Ziege an den Hörnern. Sie schien zu ahnen, dass ihr Ende gekommen war. Hektisch scharrte sie mit den Vorderläufen und stieß meckernde Klagelaute aus. Doch Gullweig durchtrennte ihr mit einem Schnitt die Kehle. Das Tier stieß ein letztes Meckern aus, dann erschlaffte der Körper, und das Blut rann in die Schüssel.
Helgi erhob sich und klopfte sich den Staub von den Knien. «Schläft Einar immer noch?»
Gullweig nickte, während sie begann, dem Tier das Fell abzuziehen. Anschließend schnitt sie den Leib auf, entnahm die Innereien der Bauchhöhle, zerteilte mit den geübten Bewegungen einer Hausfrau das Fleisch und säuberte die Knochen.
Helgi schaute seiner Mutter eine Weile bei der Arbeit zu. Als die Ziege klein gewesen war, hatte er sie mit einem milchgetränkten Lappen gesäugt.
«Ich werde Einar jetzt wecken», sagte er schließlich.
«Wenn er schläft, schläft er», murmelte Gullweig.
Nicht mehr lange, dachte Helgi. Wütend nahm er einen der mit Wasser gefüllten Eimer und ging damit in die Schlafkammer. Einar lag noch immer schnarchend auf dem Rücken, das verquollene Gesicht zur Decke gerichtet.
Gullweig folgte ihrem Sohn.
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