Das Buch der Sünden
Es schien nicht so schlimm zu sein, wie es auf den ersten Blick aussah. Geri blutete zwar stark aus einem fingerlangen Schnitt in der Beuge zwischen Hals und Schulter, aber es war nur eine Fleischwunde. Als Waffe kam nur ein Messer in Frage – und dieses schien sehr scharf gewesen zu sein.
Was Odo beunruhigte, war die Frage, woher Folke solch ein scharfes Messer hatte. Eine düstere Vorahnung beschlich ihn. Er erhob sich und wies die anderen Jungen an, Geri in das Gemeindehaus zu bringen, wo Liffard, ein heilkundiger Bruder, sich um die Versorgung der Wunde kümmern sollte.
Bald darauf war er mit Folke und Arculf allein in der Kirche. «Wo ist das Messer?», fragte er, mühsam um Fassung ringend.
Arculf, der sich allmählich wieder beruhigt hatte, hielt es Odo hin. «Ich habe dem Jungen das fürchterliche Ding abgenommen.»
Odo tat so, als würde er das Messer nicht kennen, und ließ es in seiner Tasche verschwinden.
Mit einem Anflug von Hochmut, den Odo sehr wohl registrierte, verschränkte Arculf die Arme vor der Brust und warf Folke einen vernichtenden Blick zu.
«Steh auf», sagte Odo zu dem Jungen.
Folke gehorchte. «Geri hat sich über mich lustig gemacht», meinte er trotzig.
«Gott allein vermag über Recht und Unrecht zu entscheiden.»
Folke wischte sich mit dem Handrücken Blut von der Stirn.
«Geh zu Geri und entschuldige dich», sagte Odo streng.
«Entschuldigen?» Folke starrte ihn entgeistert an.
Odo hätte dem Jungen am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Aber er hielt sich zurück. «Ich erwarte dich nach der Komplet in meiner Kammer. Du hast mir einiges zu erklären.»
Folke schniefte betroffen. Mit gesenktem Haupt trottete er aus der Kirche.
Arculf verharrte in hochmütiger Stellung.
«Eine Messerstecherei in der Kirche!», zischte er. «Als der selige Ansgar noch unter uns weilte, ist es niemals zu einem solchen Vorfall gekommen.»
Odo stöhnte auf. Immer wieder dieselbe Leier! Er war kurz davor, Arculf zu packen und ihm eine ordentliche Tracht Prügel zu verabreichen. Körperlich war er diesem gebrechlichen Greis weit überlegen. Es wäre ihm ein Leichtes, dem Kerl alle Knochen im Leib zu brechen.
«Ansgar?», entgegnete Odo verächtlich. «Und wo ist er – der selige Ansgar?»
Arculf hob die Augenbrauen. «Er ist dorthin gegangen, wo seine Hilfe am nötigsten gebraucht wird. Er bringt den Menschen im schwedischen Birka Gottes Wort …»
«Ich denke, er liegt in seinem Sprengel Brema auf dem Sterbebett», warf Odo ein.
«Woher wollt Ihr das wissen?»
«Ein Priester hat es mir in der Hammaburg erzählt.»
Arculf schüttelte vehement den Kopf. «Entweder der Priester weiß es nicht besser, oder er spricht die Unwahrheit. Vor zwei Jahren kehrte Ansgar nach Haithabu zurück, um nach Birka zu fahren. Von dort ist er bislang nicht wieder zurückgekehrt.»
Odo zuckte mit den Schultern. «Ob nun in Brema oder Birka – er ist nicht in Haithabu. Er hat seine Gemeinde im Stich gelassen.»
Arculf protestierte: «Uns ging es gut, bis …»
«… bis ich gekommen bin?», unterbrach ihn Odo erneut. «Ist es das, was du sagen wolltest? Ihr hattet kaum etwas zu essen. Die Brüder waren ausgezehrt und krank. Ihr hattet nicht einmal mehr die Kraft zum Beten, geschweige denn, neue Brüder für die Gemeinde zu werben. Aber einzig darin kann der Sinn einer Mission liegen: so viele Menschen wie möglich zum christlichen Glauben zu bekehren, damit ihre Seelen nicht länger vom heidnischen Götzentum vergiftet werden. Und nun schau dich um in
meiner
Gemeinde. Wir zählen so viele Brüder wie niemals zuvor …»
«Aber Ansgar hatte
mich
als Priester eingesetzt», rief Arculf.
«Du sollst mich nicht unterbrechen!», schrie Odo den Alten an. «Du hast die Urkunde gesehen, die mich als Priester ausweist. Papst Nikolaus hat mich auf diese Mission geschickt, damit ich das fortführe, was Ansgar begonnen hat. Ich bin es, der den Völkern des Nordens das Evangelium verkünden wird, um den Heiden das zu geben, was sie verdienen!»
Odos Worte prasselten wie Hagelkörner auf Arculf nieder. Der Alte senkte Kopf und Schultern.
«Wisch das Blut auf und dann sieh zu, dass du dichauf der Baustelle nützlich machst», beendete Odo seine Rede.
Mit diesen Worten ließ er Arculf allein.
Als Odo die Kirchentür von außen geschlossen hatte, lehnte er sich erschöpft an die Wand.
Er dachte an das Messer in seiner Tasche. Wie war der Knabe nur in seine Kammer gelangt? Aber viel schlimmer war, dass
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