Das Buch der Sünden
durch das Laubdach. Der Weg war nur schemenhaft zu erkennen. Dornenbüsche rissen an Helgis Hose; herabhängende Äste zerkratzten sein Gesicht. Einmal versank er in einer Pfütze. Je tiefer er in den Wald kam, desto morastiger wurde der Untergrund.
Von Ingvar war weit und breit nichts mehr zu sehen. Helgi wollte beinahe wieder umkehren, als er plötzlich einen Lichtschein bemerkte. Zwischen den Bäumen leuchtete ein großes Feuer.
Hwergelmir! Das Badehaus. Hier musste es sein.
Kurz darauf öffnete sich der Wald zu einer weiten Lichtung. Auf der freien Fläche stand ein Langhaus. Hinter dem Gebäude schlängelte sich ein Bach durch die mit niedrigen Büschen bewachsene Wiese.
Stimmen waren zu hören. Gelächter und Musik erklangen. Instrumente wurden gespielt.
Auf allen vieren kroch Helgi an den Rand der Lichtung, wo er hinter einer Buche in Deckung ging.
Vor dem Langhaus loderte ein Lagerfeuer. Ein gutes Dutzend Männer stand lachend und trinkend herum. Helgi sah Ingvar, der von den Männern begrüßt wurde. Man umarmte sich. Die Männer tanzten ausgelassen zu den Klängen einer Knochenflöte.
Über einem anderen Feuer drehte sich ein Spieß. Darauf steckte der Stör. Er war so groß, dass zwei Männer nötig waren, um das Tier zu wenden, damit es von allen Seiten gleichmäßig gebraten wurde. Auch der Fischer Björn war dabei. Er erzählte allen, die es hören wollten, wie er den Fisch besiegt hatte.
Plötzlich vernahm Helgi neben sich ein Geräusch. Blätter raschelten. Ein Zweig knackte bedrohlich nah. Jemand stieß einen stöhnenden Laut aus.
Dann sagte eine Stimme: «Na, Junge, traust du dich nicht näher ran?»
Helgi wirbelte herum und blickte in das tätowierte Gesicht der fetten Frau, die er aus dem Hafenbecken gefischt hatte. Sie hockte keine drei Schritt von ihm entfernt mit gespreizten Beinen über dem Boden und erleichterte sich.
«Skíta»
, murmelte sie und grinste.
Als sie fertig war, wischte sie ihren Hintern mit trockenen Blättern ab. Dann erhob sie sich und schüttelte ihr sackartiges Kleid zurecht.
Sie grinste Helgi zahnlos an, streckte sich und kniff ihm in die Wange. «Du bist ja ein ganz Süßer.»
Helgi wich angewidert zurück.
«Ich heiße Sif.»
Helgi war unwohl.
«Irgendwo hab ich dich doch schon mal gesehen», überlegte sie.
«Am … Hafen», erwiderte Helgi und schaute sich dabei nach einer Fluchtmöglichkeit um.
Sif nickte begeistert. «Das warst du.»
Ehe Helgi sichs versah, hatte ihn das Weib am Arm gepackt und auf die Lichtung geschoben.
«Guckt mal, was ich gefunden hab!», rief sie den Männern am Feuer zu.
Der Musiker ließ die Flöte sinken, die Männer unterbrachen ihre Gespräche.
Erleichtert stellte Helgi fest, dass Ingvar nirgendwo zu sehen war.
Stattdessen trat ihnen ein geschminkter Mann entgegen. Er hatte seine Stirn und seine Wangen mit bunten, wellenförmigen Strichen verziert. Die Ränder seiner Augen waren mit Kohle geschwärzt.
«Wen bringst du uns denn da, Sif?», fragte der Mann lachend. «Ein Prachtexemplar! Schaut euch nur einmal an, wie groß er ist.»
Als der Mann noch näher herantrat, glaubte Helgi, unter der Schminke jenen Soldaten wiederzuerkennen, der die Leichenfüße bei Yggdrasil hatte einsammeln müssen.
«Finger weg, Swarim», bellte Sif und schubste den Mann zur Seite. «Das ist kein Spielzeug für euch.»
Swarim setzte ein gespielt beleidigtes Gesicht auf und verzog sich. Der Musikant setzte die Flöte an. Kurz darauf lebten Gelächter und Musik wieder auf.
Ehe Helgi sichs versah, hatte Sif ihn zum Langhaus geschoben. Schon stieß sie die Tür auf. Ein ohrenbetäubender Krach schlug Helgi entgegen. Schreie, Musik, Gelächter. Im Haus wurde ein ausgelassenes Trinkgelagegefeiert. Helgi hatte einige Jul- oder Mittsommerfeiern erlebt. Auch zum Erntedankfest ging es auf der Hochburg hoch her. Aber er konnte sich nicht erinnern, dass jemals eine dieser Feiern so ausgeartet wäre wie dieses Fest.
Das Haus war völlig überfüllt. Dutzende Männer, Frauen und Mädchen drängten sich dicht an dicht. Ein Meer aus wogenden, schwitzenden, entblößten Leibern. Die Luft war stickig. Der Gestank nach Rauch und Schweiß war unerträglich. Männer grölten, Frauen kreischten. Bier, Wein und Met flossen in Strömen. Musikanten spielten wie besessen auf Flöten und birnenförmigen Saiteninstrumenten.
An der linken Wand hatte man aus Brettern und Fässern einen langen Tisch aufgebaut. Hier wurden die Trinkschläuche gefüllt. In einer
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