Das Buch der Sünden
kannte sie.
In Haithabu gab es vor allem in den Handelsmonaten, wenn der Slienfjord eisfrei war, eine unüberschaubare Auswahl an Sklaven. Sie wurden meist aus den im Osten gelegenen Ländern hergebracht. Entweder, um sie hier an Ort und Stelle an Freie – Bauern, Handwerker oder Soldaten – zu verkaufen, oder um sie weiter nach Westen in die fränkischen Reiche zu transportieren. Ob Frauen oder Männer, Mädchen oder Knaben, blutjung oder steinalt – jeder Wunsch wurde erfüllt.
Auch Helgis Eltern würden sich einen Sklaven halten,wenn sie genug Geld hätten. Gullweig wäre froh über eine tüchtige Haushaltshilfe. Helgi war jedoch überzeugt, dass ein Sklave bei ihnen ein ordentliches Leben hätte. Denn das hatten seine Eltern Helgi gelehrt: Der Mensch bleibt ein Mensch, auch wenn er aus einem anderen Land stammt oder ein Sklave ist. Bei ihnen zu Hause wäre niemand an Hunger krepiert. Er hätte menschenwürdig gelebt. Man hätte ihn nicht wie Schlachtvieh in einen undichten Stall gepfercht.
Hätte Helgi damals, im vergangenen Herbst, genug Geld gehabt, hätte er Rúna, das Mädchen mit den rosafarbenen Wangen und den dunklen Haaren, auf dem Sklavenmarkt gekauft. Das stumme Mädchen – es hatte sein Herz angerührt wie kein anderes jemals zuvor. Man hatte sie geschoren. Nun sah sie aus wie alle anderen Sklaven. Abgemagert, verhärmt, dreckig, kahl und blass.
In Helgi reifte ein Entschluss. Er würde Rúna befreien.
Er setzte sich in Bewegung. Es war bereits dunkel geworden, etwa eine Stunde nach Sonnenuntergang. Wahrscheinlich lag Ingvar bereits im Bett.
Aber er war sein Freund, und Helgi brauchte ihn jetzt.
Als Helgi in die Gasse einbog, die zu Ingvars Grubenhaus führte, bemerkte er eine Gestalt, die sich an einem der Gebäude zu schaffen machte. Beim zweiten Hinsehen erkannte Helgi, dass es sich dabei um das Haus seines Freundes handelte. Und schließlich wurde ihm klar, dass es nur Ingvar selbst sein konnte, der mitten in der Nacht sein Haus verließ.
Merkwürdig. Was hatte Ingvar vor? Er kam in Helgis Richtung. Einem Impuls folgend, verbarg sich Helgi hinter dem Weidenzaun eines Vorgartens.
Ingvar schien bester Laune zu sein und summte eine fröhliche Melodie, als er mit federnden Schritten an Helgis Versteck vorbeiging.
Helgi glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. War Ingvar etwa geschminkt? Hatte er sein Haar nicht mit klebriger Paste hinter die Ohren gekämmt? Er trug einen dünnen, auffälligen roten Mantel, der mit bunten Bändern verziert war. An seinen Schuhen bimmelten winzige Glöckchen.
An einer Weggabelung bog Ingvar auf eine Straße ab, die in westlicher Richtung aus Haithabu führte.
Helgi verließ das Versteck und folgte seinem Freund in einer Entfernung von etwa fünfzig Schritt. Sie kamen am Friedhof vorbei. Eine Weile marschierte Ingvar über die ausgebaute Straße in Richtung Hygelac. Hin und wieder hielt er inne, um sich umzuschauen. Doch Helgi duckte sich jedes Mal rechtzeitig, sodass Ingvar ihn nicht bemerkte.
Mit einem Mal war er verschwunden. Helgi fluchte leise. Er rannte zu der Stelle, an der er Ingvar zuletzt gesehen hatte. Nach einigem Suchen entdeckte er schließlich einen Trampelpfad, der linker Hand von der Straße in den dunklen Wald führte.
Da ahnte Helgi, wohin Ingvar unterwegs war: zum Badehaus, diesem verruchten Ort!
Das Badehaus war ein Hort der Ausgestoßenen, des Abschaums. Helgi hatte darüber die schrecklichsten Geschichten gehört. Von Ausschweifungen war die Rede gewesen. Von zügellosen Gelagen. Von frauenähnlichen Wesen mit großen Brüsten und langen Schwänzen, die Männer verführten, um sie zu töten und ihr Blut in einen Bach zu entleeren.
Gullweig hatte das Badehaus gar mit einer Quelle verglichen, die Hwergelmir hieß und aus dem Reich der Götter hervorsprudelte.
«In Hwergelmir ist es am schlimmsten», hatte Helgis Mutter mit erhobenem Zeigefinger gemahnt. «Da saugt der Totendrache Nidhöggr die Leichen der Entseelten aus. Dort unten, tief unter der Erde, in Hel, der Hölle, hausen die Toten, dort halten sie sich auf, bis in alle Ewigkeit.»
Es waren nur Geschichten, sicher. Aber sie hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Helgi hatte immer aufgepasst, dass er um diese Gegend einen weiten Bogen machte. Die Vorstellung, von mannstollen Weibern aufgefressen zu werden, war nicht sehr verlockend.
Aber was hatte Ingvar hier verloren?
Helgi musste es herausfinden. Er tauchte in den finsteren Wald ein. Hier und da schimmerte Mondlicht
Weitere Kostenlose Bücher