Das Buch der Toten
hatte größte Mühe, meine Atmung im Zaum zu halten und meine Hände.
Sie starrte mich an. Die Anspannung um die riesigen blauen Augen herum war verschwunden; was ich sah, war nur eine sanfte Traurigkeit und vielleicht eine Spur Begehren.
»Es war keine Tortur«, sagte sie. »Sie haben genau das Richtige gesagt. Wollen Sie noch ein Geständnis hören? Ich habe mich auf das Wiedersehen mit Ihnen gefreut.«
»Ich auch«, sagte ich.
Ich lächelte und zuckte die Schultern, und sie tat das Gleiche. Eine charmante Parodie.
»Sie auch, aber…«, sagte sie. »Das gewisse Etwas, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Nun ja, vielleicht in einer anderen Galaxie, Alex. Sie sind ein ganz reizender Mensch. Viel Glück.«
»Ihnen auch.«
Sie machte mir die Tür auf. Und hielt sie noch geöffnet, während ich den Flur entlangging.
24
Als Milo am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe aufwachte, spukten noch die höhnisch grinsenden Gesichter der Männer, die sich im Sangre de Leon getroffen hatten, in seinem Kopf herum. Er dachte: Zu viele Möglichkeiten, die Sache anzugehen; zu wenig Milo, um sie alle zu nutzen. Er wankte ins Bad, rasierte sich, raffte wahllos irgendwelche Klamotten zusammen, schaltete die Kaffeemaschine ein und sah auf die Uhr. Sieben Uhr dreizehn. Ein Notruf hatte Rick vor drei Stunden aus den Federn gerissen. Milo hatte zugesehen, wie er im Dunkeln in seinen OP-Anzug geschlüpft war, der stets ordentlich gefaltet auf einem Stuhl bereit lag, die Porscheschlüssel vom Nachttisch genommen hatte und zur Tür geschlichen war.
Dann hatte Rick innegehalten, war zum Bett zurückgekommen und hatte Milo sanft auf die Stirn geküsst. Milo hatte sich schlafend gestellt, weil ihm nicht nach Reden zu Mute gewesen war, auch nicht nach einem schlichten »Auf Wiedersehen«.
Sie hatten die halbe Nacht hindurch ausgiebig geredet, drüben am Küchentisch. Das heißt, die meiste Zeit hatte Milo geredet, während Rick zugehört hatte; äußerlich ruhig, aber Milo wusste, wie erschüttert er von der Begegnung seines Freundes mit Paris Bartlett und diesem HIV-Gerücht war. In all den Jahren hatte Milos Arbeit nie ihr Privatleben beeinträchtigt.
Milo hatte ihn zu beruhigen versucht, und Rick hatte genickt, hatte erklärt, dass er todmüde sei, und war eingeschlafen, kaum dass sein Kopf das Kissen berührt hatte.
Milo hatte noch die Kartons vom Chinaimbiss und das Geschirr vom Abendessen weggeräumt und war dann zu Rick ins Bett geschlüpft, wo er vielleicht noch eine Stunde lang dagelegen, auf Ricks regelmäßigen Atem gelauscht und nachgedacht hatte.
Die Cossacks, Walt Obey, Larner junior, Ed Bazille, Diamanten-Jim Thorne. Und der Akteur, der nicht aufgetreten war. Er sah das Gesicht deutlich vor sich, eine stoische, ebenholzfarbene Maske.
Die Begegnung mit dem grinsenden Bartlett, die Anfrage vom »Personalbüro« und das HIV-Gerücht, das alles deutete darauf hin, dass John G. Broussard die Hand im Spiel hatte. Er erinnerte sich an Broussard, an den Geruch von Broussards Zitrus-Rasierwasser, damals vor zwanzig Jahren in dem Vernehmungsraum. Der handgenähte Anzug, die unerschütterliche Selbstgewissheit, die Autorität. Er und sein Kollege mit dem rosigen Teint, Poulsenn. Milo wusste nicht, was aus seiner Karriere geworden war, aber John G. hatte es jedenfalls ziemlich weit gebracht.
Ein Team aus einem Weißen und einem Schwarzen, und der Schwarze war der dominante Partner gewesen. Ein Schwarzer, der eine so steile Karriere machte, und das in den Tagen des finstersten Rassismus im LAPD, das musste bedeuten, dass Broussard alle seine Harpunen in den richtigen Walen stecken hatte. Dass er vermutlich den Schmutz, den er in der Abteilung Innere Angelegenheiten angesammelt hatte, eingesetzt hatte, um an den richtigen Stellen Druck auszuüben.
Mr. Tugendhaft. Und er hatte den Ingalls-Fall und weiß Gott was sonst noch unter den Teppich gekehrt. Milo hatte mit dringesteckt, hatte sich mitziehen lassen und sich eingeredet, er könne das alles wieder vergessen.
Und jetzt fragte er sich, was er damit seiner Seele angetan hatte.
Er goss sich Kaffee ein, aber das schlammige Gebräu schmeckte wie Batterieflüssigkeit, und er spuckte es aus und kippte rasch ein Glas Leitungswasser hinterher. Das Licht, das durch das Küchenfenster fiel, war gelblichgrau wie getrockneter Schleim. Er setzte sich auf einen Stuhl und dachte weiter über Broussard nach, einen Jungen aus South Central, der in Hancock Park gelandet war. Als Nachbar von
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