Das Buch der Toten
und vergewaltigte mich und zwang mich, die Zigarre zu rauchen. Schließlich wurde mir klar, dass ich kurz vor dem Zusammenbruch stand, ich baute rapide ab. Ich musste unbedingt irgendetwas tun. Und so suchte ich den Namen des Vorsitzenden des Schulverwaltungsrats heraus, es war irgendein Rechtsanwalt aus der City, Preston oder so ähnlich und nachdem ich mich eine volle Woche damit herumgequält hatte, rief ich endlich in seiner Kanzlei an, und nachdem ich ihn nach mehreren Versuchen schließlich am Apparat hatte, erzählte ich ihm, was passiert war. Nur nicht so, wie es wirklich passiert war, ich spielte es herunter, reduzierte es auf eine massive Anmache, die gleiche Version, die ich auch Larry aufgetischt hatte.«
Larry hatte mir gegenüber von Grabschen und Fummeln gesprochen.
»Wie hat Preston reagiert?«, fragte ich.
»Er hörte mir zu. Zuerst sagte er gar nichts. Stellte überhaupt keine Fragen, was mich ganz aus der Fassung brachte. Ich bekam allmählich den Eindruck, dass er mich für verrückt hielt. Schließlich sagte er, er würde sich wieder bei mir melden. Zwei Tage später hatte ich die Kündigung im Briefkasten. Man gab mir den Laufpass wegen mangelhafter Arbeitsmoral und übermäßigen Fernbleibens. Ich habe den Brief nie meinen Eltern gezeigt; ich sagte ihnen bloß, ich hätte den Job geschmissen, weil er mich zu wenig gefordert habe. Ihnen war es gleichgültig. Meine Mutter wollte nur, dass ich in den Club gehe und schwimme und Tennis spiele und nette Jungs kennen lerne. Was ihr nicht gefiel, war, dass ich einfach nur im Haus rumhängen und nicht unter die Leute gehen wollte. Und deshalb organisierte sie eine Kreuzfahrt nach Alaska für die ganze Familie. Auf einem großen Luxusliner, der an den Gletschern entlangfuhr, wir konnten die Fischotter sehen, wie sie inmitten der Eisschollen ihre Jungen säugten… All das blaue Eis war nicht so kalt wie mein Herz in diesem Sommer.«
Sie stand auf, ging zurück zum Sessel, gab sich alle Mühe, entspannt zu wirken, schaffte es aber nicht.
»Ich habe niemandem je erzählt, was wirklich passiert ist. Bis heute nicht. Aber das war die falsche Zeit und der falsche Ort, nicht wahr? Ich habe einen Fremden für meine Beichte missbraucht. Es tut mir Leid.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Allison.«
»So viele Jahre«, sagte sie. »Und es ärgert mich immer noch, dass ich dieses Schwein habe davonkommen lassen. Wer weiß, wie vielen anderen er das noch angetan hat. Und ich hätte es verhindern können.«
»Ihre Aussage hätte gegen seine gestanden, und er hatte schließlich die Macht«, meinte ich. »Es war nicht Ihre Schuld, weder damals noch später.«
»Wissen Sie, wie viele Frauen ich schon behandelt habe? Wie vielen Patientinnen ich geholfen habe, mit genau dieser Erfahrung umzugehen? Und nicht, weil ich solchen Fällen nachgehe. Nicht, weil ich meine Patientinnen dazu benutze, mir meinen eigenen Müll von der Seele zu schaffen. Sondern weil es so verdammt oft vorkommt. Ich helfe meinen Patientinnen, aber wenn es dann um meinen eigenen Mist geht, verdränge ich. Das ist doch verrückt, finden Sie nicht?«
»Nein«, antwortete ich. »Es ist menschlich. Ich habe auch immer gepredigt, wie wichtig es ist, alles auszusprechen, aber wenn es um meinen eigenen Kram geht, versuche ich normalerweise, allein damit fertig zu werden.«
»Wirklich?« Ich nickte.
»Und Sie machen zurzeit auch etwas durch, habe ich Recht?« Ich starrte sie entgeistert an.
»Ihre Augen sind traurig«, sagte sie.
»Ich mache tatsächlich zurzeit ein bisschen was durch«, sagte ich.
»Tja«, meinte sie, »wir sind wohl irgendwie verwandte Seelen. Und dabei sollten wir es belassen, denke ich.«
Sie begleitete mich zur Tür. »Wie ich Ihnen schon bei unserem ersten Treffen gesagt habe, Sie können einfach zu gut zuhören, Sir.«
»Berufsrisiko.«
»War das hilfreich für Sie? Zu erfahren, dass Larner wütend war wegen Willie Burns?«
»Ja«, sagte ich, »vielen Dank. Ich weiß, dass es eine Tortur für Sie war.«
Sie lächelte. »Nein, keine Tortur, sondern eine Erfahrung. Und das, was Sie durchmachen, das hat doch nichts mit Caroline Cossack oder Willie Burns zu tun, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Tut mir Leid«, sagte sie. »Ich will Sie nicht weiter ausfragen.« Sie streckte die Hand nach dem Türknauf aus, und ihre Schulter streifte meinen Arm. Im Moment der Berührung durchfuhr es mich wie ein elektrischer Schlag. Augenblicklich war ich äußerst erregt und
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