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Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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reden, ganz leise, in einer Art Singsang. Wie es mir in Achievement House gefalle? Ob ich zufrieden sei? Ob ich mir schon Gedanken über meine Berufswahl gemacht habe? Vielleicht wäre der Lehrberuf das Richtige für mich, denn ich könne offensichtlich gut mit Menschen umgehen. Ich sagte nur wenig; er wollte eigentlich gar keine Antworten hören. Es war ein Monolog, eintönig, hypnotisierend. Dann brach er plötzlich ab; ich spürte seine Anspannung, als er sagte: ›Du musst nicht nervös sein, Allison. Wir sind hier alle Freunde.‹ Dann passierte eine Weile gar nichts, mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Und plötzlich spürte ich seinen Finger an meiner Wange - er drückte und streichelte mich, sagte irgendetwas über meine Haut, wie rein und frisch sie sei, wie schön es sei, eine junge Dame zu sehen, die auf ihre Körperpflege achtete.«
    Sie griff mit einer Hand in ihre Haare und zog fest daran. Dann ließ sie beide Hände flach auf den Schreibtisch fallen und starrte mich an, wie um zu testen, ob ich ihrem Blick standhalten würde.
    »Er hat mich immer weiter gestreichelt«, sagte sie. »Es war unangenehm, es kitzelte und ich drehte mich weg. Plötzlich lachte er; ich blickte auf und sah, dass es nicht sein Finger war, den er mir auf die Wange gelegt hatte. Es war sein Ding, ach, haben Sie das gehört, ich rede ja wie ein kleines Kind, es war sein Penis, und er rieb ihn an meiner Wange und drückte ihn dagegen. Ich war so entsetzt, dass mir die Kinnlade herunterklappte, und das war das Falscheste, was ich tun konnte, denn er lachte wieder, und im nächsten Moment war er drin, und plötzlich hatte er mich mit der anderen Hand am Hinterkopf gefasst, mit der Zigarrenhand, und der Rauch hüllte mich ein, und er schob ihn tiefer in meinen Mund, sodass ich keine Luft mehr bekam und zu würgen begann. Aber meine Augen waren offen, aus irgendeinem Grund hatte ich sie offen gehalten, und ich konnte sein weißes Hemd sehen und seine Krawatte - eine gestreifte Krawatte, blau und schwarz -, und die untere Hälfte seines Gesichts, die wabbelnden, rosigen Fettwülste, sein zitterndes Doppelkinn, und er wippte wieder auf den Absätzen, aber anders als vorher, und der Zigarrenrauch brannte in meinen Augen, und ich fing an zu weine n.«
    Sie verfiel in Schweigen, saß lange starr und reglos da. »Er ist nicht gekommen. Gott sei Dank nicht. Es gelang mir, mich rechtzeitig loszureißen, ich stürzte zur Tür und rannte davon, ohne mich auch nur einmal umzusehen. Ich setzte mich ans Steuer und fuhr wie ferngesteuert los, und als ich zu Hause ankam, meldete ich mich sofort krank. Das war keineswegs nur eine Ausrede, ich fühlte mich hundeelend. Die nächsten Tage blieb ich nur im Bett, ich kotzte, wenn meine Mutter es nicht hören konnte, und lag die restliche Zeit einfach nur da; ich hatte Angst, ich kam mir erniedrigt vor, und vor allem ungeheuer dumm. In Gedanken ging ich die Szene ein ums andere Mal durch und gab mir selbst die Schuld für alles. Weil ich dieses Kleid angezogen hatte, weil ich zu viel nackte braune Haut gezeigt hatte, weil ich nicht auf der Hut gewesen war… Ich weiß, dass es nie die Schuld des Opfers ist, wie oft habe ich das schon meinen eigenen Patientinnen gesagt. Aber…«
    »Sie waren siebzehn«, sagte ich.
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich anders damit umgegangen wäre oder ob ich mich anders gefühlt hätte, wenn ich siebenundzwanzig gewesen wäre. Nicht bei dem Bewusstseinsstand von vor zwanzig Jahren.« Sie sank auf ihrem Stuhl zusammen, löste ihr Haar erneut, spielte damit herum und wischte sich etwas aus dem Augenwinkel.
    »Das Schlimmste war, dass ich mir so allein vorkam. Im Stich gelassen, ohne jede Unterstützung. Ich konnte mich nicht meinen Eltern anvertrauen, weil es so demütigend war. Ich erzählte es Larry Daschoff in einer zensierten Version, denn obwohl Larry in diesem Sommer mein Mentor war, und obwohl er stets freundlich und hilfsbereit gewesen war, er war auch ein Mann. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass es meine eigene Schuld war. Also rief ich wieder in Achievement House an, sagte, ich sei immer noch krank, und erzählte meiner Mutter, ich hätte eine Grippe oder so etwas Ähnliches. Tagelang verkroch ich mich in meinem Zimmer. Wie unter Zwang musste ich immer wieder über das Geschehene nachgrübeln, und ich träumte davon, die Träume waren das Schlimmste. In den Träumen konnte ich nicht mehr rechtzeitig entkommen, Larner kam in meinem Mund, und dann schlug er mich

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