Das Buch der Toten
dass man auf seine Platzzuweisung warten muss. Sie lassen die Passagiere in Gruppen ein und verteilen kleine Plastikmarken mit Nummern darauf.«
»Na prima… Ich hätte gerne ein halbes Dutzend Bagels, ein dünn geschnittenes Roggenbrot und zwei Zwiebelbrötchen.«
Die Maschine war voll besetzt; es war eng, aber die Stimmung war nicht schlecht; die Passagiere waren überwiegend routinierte und gelassene Vielflieger, die Flugbegleiter verhinderte Alleinunterhalter. Wir landeten früher als vorgesehen auf einem mit Schnee gesprenkelten Rollfeld und stellten unsere Uhren eine Stunde vor. Der Flughafen Sunport war bescheiden und angenehm ruhig, gestaltet in Erdfarben, Türkis und Lehmziegel-Imitat, und überall fanden sich talismanartige Hinweise auf eine zurückgedrängte indianische Kultur.
Wir holten unseren Mietwagen ab, einen Ford Escort, ich setzte mich ans Steuer, und wir fuhren auf dem Highway 25 nordwärts Richtung Santa Fe. Der Wind rüttelte den kleinen Wagen tüchtig durch. Sauberer, lockerer Schnee war am Straßenrand aufgehäuft, aber die Fahrbahn war geräumt, und der Himmel war so blau und riesig, dass es meine kühnsten Vorstellungen übertraf, und als ich das Fenster aufmachte, um die Luft zu schnuppern, wehte mir eine reine, köstlich kühle Brise ins Gesicht.
»Schön hier«, sagte ich. Milo grunzte.
Die Ausläufer der Stadt, Fastfood-Filialen und Indianer-Casinos wichen schon bald ausgedehnten Wüstenebenen, eingefasst von den bläulich schimmernden Gipfeln der Sangre de Cristo Mountains und diesem weiten Himmel, der immer noch größer zu werden schien.
»Fantastisch«, sagte ich.
»He, guck mal«, sagte Milo. »Höchstgeschwindigkeit fünfundsiebzig Meilen. Gib ruhig mal ein bisschen Gas.«
Als wir uns Santa Fe näherten, begann der Highway anzusteigen, und der Höhenmesser kletterte stetig bis auf zweitausend Meter. Wir rasten über die höchstgelegene Wüste des Landes hinweg, aber hier gab es weder Kakteen noch öde Sandflächen. Wo der Schnee geschmolzen war, waren die Berge grün, und auch die Ebene war mit Piñon-K iefern bewachsen, die Wind und Trockenheit trotzten, uralt, knorrig, dicht an den Boden geduckt, Sieger im Kampf ums Dasein; dazu hier und da senkrecht nach oben strebende Espen mit kahlen Ästen. Millionen von Bäumen mit weißen Wipfeln, keine Wolke am Himmel. Ich fragte mich, ob Rechtsanwältin Mrs. Melinda Waters heute früh mit dem Gedanken wach geworden war, dass es ein herrlicher Tag werden würde. Würden wir nur ein belangloses Ärgernis darstellen oder einen Eingriff in ihren Alltag, den sie nie vergessen würde?
Ich nahm die Ausfahrt Saint Francis in Richtung Cerrilos Road, und wir durchquerten den Süden von Santa Fe. Hier sah es nicht anders aus als in jeder anderen mittelgroßen Stadt, mit Einkaufszentren, Gebrauchtwagenhändlern, Tankstellen und anderen Geschäften der Art, wie sie sich gerne in der Nähe von Highways ansiedeln. Melinda Waters' Kanzlei lag meinen Informationen zufolge in einer Straße namens Paseo de Peralta, und wenn ich den Stadtplan, den ich am Mietwagenschalter eingesteckt hatte, richtig gelesen hatte, musste das ganz in der Nähe der Cerrilos Road sein. Aber die Hausnummern passten nicht, und so folgte ich den Schildern nach Norden in Richtung Zentrum und Plaza, und mit einem Mal waren wir in einer anderen Welt. Enge, gewundene Gassen, zum Teil mit Kopfsteinpflaster, zwangen mich, die Geschwindigkeit zu reduzieren, während wir an einstöckigen Häusern aus Adobeziegeln vorbeifuhren, die in der Sonne glänzten, und an Gebäuden im spanischen Kolonialstil mit ockergelben, graubraunen, pfirsichfarbenen und goldenen Fassaden. Pfützen von schmelzendem Eis glitzerten wie Opale. Die Straße war mit Bäumen gesäumt, die sich ihrer Schneelast bis auf wenige weiße Tupfer entledigt hatten, und durch ihr Geäst schimmerte das strahlend blaue Lächeln des Himmels.
Nördlich des Zentrums waren ganz andere Geschäfte zu finden: Kunstgalerien, Skulpturen und Glasstudios, Kaufhäuser für Gourmet-Küchenbedarf, Feinkost, Designermode, handgearbeitete Möbel und maßgefertigte Bilderrahmen. Jede Menge Cafés und Restaurants, die nicht mit dem Logo irgendeiner Kette verunziert waren, boten alles Mögliche an, von Südweststaaten-Küche bis Sushi. SUVs und Geländewagen waren die beliebtesten Fortbewegungsmittel, und auf den Gehsteigen wimmelte es von geschmeidigen, fröhlichen Menschen in Jeans, Wildlederjacken und Cowboystiefeln, die nie
Weitere Kostenlose Bücher