Das Buch der Toten
Burns am Telefon gesprochen und regelrecht getobt. Willie war zu dem Zeitpunkt schon seit ein paar Tagen nicht mehr in Achievement Hous, hört sich also an, als hätte Larner herausgefunden, wer Burns war, und sich über sein Verschwinden aufgeregt.«
»Getobt«, sagte Milo.
»So hat sie es geschildert. Sie kam in sein Büro, als er gerade sein Telefonat beendete, und wie sie sagt, war Larner ganz rot im Gesicht und vollkommen außer sich. Dann hat er sich wieder gesammelt und seine Aufmerksamkeit ihr zugewandt. Was vielleicht kein reiner Zufall war. Vergewaltiger und Männer, die Frauen sexuell belästigen, kommen oft erst richtig in Fahrt, wenn sie sich über etwas aufregen. Wie dem auch sei, es ist wahrscheinlich keine große Sache, aber es passt zu unserer Arbeitshypothese: Die Cossack-Familie hat Larner angeheuert, um Caroline wegzusperren, bis Gras über den Mord an Janie Ingalls gewachsen war. Burns hat mit Caroline Kontakt aufgenommen, dann hat er sich aus dem Staub gemacht, und die Familie ist in Panik geraten. Aber sie haben ihn nicht finden können, und es gelang ihm sogar, nach seiner Verhaftung wegen Dealerei wieder abzutauchen, weil Boris Nemerov ihm sofort die Kaution stellte. Vier Monate darauf lockte er Nemerov in den Hinterhalt.«
»Interessant«, sagte Milo. »Gute Arbeit.« Er berichtete kurz, was er am Abend zuvor vor dem Sangre de Leon beobachtet hatte.
»Großes Geld«, sagte Alex. »Immer dieselbe Geschichte. Da ist noch etwas: Als ich im Internet nach Erwähnungen von Melinda Waters suchte, bekam ich ein paar Treffer, denen ich aber nicht nachgegangen bin. Später ist mir der Gedanke gekommen, dass ich in einem Fall vielleicht ein bisschen voreilig war: eine Anwältin in Santa Fe, New Mexico, mit den Spezialgebieten Konkursrecht und Zwangsräumungen. Ich hatte mir Melinda immer als bekiffte Schulschwänzerin vorgestellt und konnte von dort keine Verbindung zu einer juristischen Laufbahn herstellen, aber deine Bemerkung, dass sie vielleicht inzwischen eine Familie und ein hübsches Einfamilienhaus haben könnte, hat mich nachdenklich ge macht, und so habe ich ihre Website noch mal aufgerufen und mir ihre Biografie angeschaut. Sie ist achtunddreißig, das wäre genau Melindas heutiges Alter. Und sie hat ihren Collegeabschluss erst mit einunddreißig gemacht, das juristische Examen mit vierunddreißig. Davor hatte sie drei Jahre als juristische Hilfskraft gearbeitet, aber in ihrem Lebenslauf klafft immer noch eine Lücke zwischen dem achtzehnten und dem achtundzwanzigsten Lebensjahr. Das würde passen, wenn sie ein wechselvolles Leben hinter sich hat und erst spät die Kurve gekriegt hat. Und jetzt hör gut zu: Studiert hat sie in Kalifornien, zuerst San Francisco State bis zum Collegeabschluss, dann Hastings für das Jurastudium.«
»Hastings ist eine Spitzen-Uni«, sagte Milo. »Bowie Ingalls hat Melinda als Versagerin beschrieben.«
»Bowie Ingalls war nicht gerade der beste Menschenkenner. Und ein Mensch kann sich ändern. Wenn ich das nicht glauben würde, müsste ich mir einen anderen Beruf suchen.«
»Konkursrecht und Zwangsräumungen… es ist alles möglich, denke ich.«
»Vielleicht ist sie nicht unser Mädchen, aber meinst du nicht, dass es einen Versuch wert wäre?«
»Sonst noch irgendwas Interessantes in ihrer Biografie?«
»Nein. Verheiratet, zwei Kinder. Nette kleine Einfamilienhäuser gibt's sicher auch in Santa Fe. Es ist ein Neunzig-Minuten-Flug bis Albuquerque, dann noch eine Stunde Fahrt bis Santa Fe, und Southwest Airlines bietet billige Flüge an.«
»Sie anzurufen wäre wohl zu einfach«, sagte Milo.
»Wenn sie ihre Vergangenheit lieber verdrängt, dann würde sie am Telefon vielleicht lügen. Morgen früh um sieben Uhr fünfundvierzig geht eine Maschine. Ich habe zwei Plätze reserviert.«
»Ganz schön raffiniert. Ich bin stolz auf dich.«
»Es ist kalt dort«, sagte Alex. »Temperaturen von minus fünf bis plus fünf Grad, und es liegt Schnee. Also pack dich warm ein.«
25
Um sieben Uhr fünfzehn stand ich mit Milo am Ende einer langen Schlange vor dem Abflug-Gate der Southwest Airlines. Der Terminal erinnerte an Ellis Island, nur die langen Mäntel der Einwanderer fehlten. Sonst war alles da, die müden Gestalten, die besorgten Blicke, das Sprachengewirr.
»Ich dachte, wir hätten Plätze reserviert«, meinte er und musterte argwöhnisch die vor uns Wartenden.
»Wir haben elektronische Tickets«, erklärte ich. »Das Southwest-System funktioniert so,
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