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Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Melinda trug Lipgloss, ihre Maniküre war beeindruckend, und der Diamantring an ihrem Finger sah nach mindestens zwei Karat aus. Sie würdigte uns kaum eines Blickes und strahlte eine gelangweilte Professionalität aus, die aber aufgesetzt wirkte. Mein Herz machte einen Satz, als ich sie sah. Das gleiche Gesicht wie im Jahrbuch der Hollywood High. Milo wusste es auch. Seine Miene war verbindlich, aber unterhalb seiner Koteletten hatten sich kirschgroße Knoten gebildet, die mir seine Anspannung verrieten.
    Melinda Waters starrte seine Karte an und bot uns mit einer flüchtigen Geste zwei Stühle mit Rückenlehnen aus Rohrgeflecht an, die gegenüber von ihrem Schreibtisch standen.
    Ihr Büro war rostrot gestrichen und sehr klein, um nicht zu sagen winzig; es bot gerade genug Platz für das Bücherregal, den Schreibtisch, die Stühle und einen rot lackierten Ständer mit einer blauweißen Vase, in der eine einzelne weiße Orchidee steckte. Die Wände zur Linken und Rechten waren mit Landschaftsaquarellen geschmückt, grüne Hügel über dem Ozean, Immergrüne Eichen, Klatschmohnfelder. Kalifornische Träume. Der restliche Platz wurde von Familienfotos eingenommen. Melinda Waters mit einem schla nken, großen Mann mit dunklem Bart und zwei schelmisch grinsenden Buben von schätzungsweise sechs und acht Jahren. Beim Skifahren, beim Tauchen, beim Reiten, beim Angeln. Eine Familie, die viel zusammen unternimmt, wird auch zusammenbleiben…
    »Detectives von der Mordkommission. Nun, das ist natürlich etwas ganz anderes.« Sanfte Stimme mit sarkastischen Untertönen. Unter normalen Umständen war sie wahrscheinlich ein Muster an Professionalität, aber ein Zittern am Ende des Satzes verriet, dass sie sich nicht einredete, unser Besuch sei Routine.
    »Anders als was, Ma'am?«, fragte Milo.
    »Anders als das, was ich eigentlich vorhatte, noch bis kurz vor der Mittagspause. Offen gestanden, ich bin verwirrt. Ich bearbeite überhaupt keine Fälle in L. A., und schon gar keine Mordfälle. Meine Spezialgebiete sind Mietrecht und finanzielle…«
    »Janie Ingalls«, sagte Milo.
    Melinda Waters' Seufzer war sehr tief und gedehnt.
    Sie spielte mit den Papieren und Stiften auf ihrem Schreibtisch, klappte den Laptop zu, rückte ihre Frisur zurecht. Schließlich drückte sie eine Taste an ihrem Telefon und sagte:
    »Stellen Sie bitte keine Anrufe mehr durch, Inez.«
    Sie rollte ihren Stuhl um die paar Zentimeter zwischen der Rückenlehne und ihrer Paragrafenkulisse zurück und sagte:
    »Das ist ein Name aus grauer Vorzeit. Was ist mit ihr passiert?«
    »Sie wissen es nicht?«
    »Nun ja«, sagte sie, »auf Ihrer Karte steht ›Mordkommission‹, also darf ich wohl annehmen…?«
    »Das dürfen Sie.«
    Melinda Waters nahm ihre Brille ab, ballte eine Hand zur Faust und rieb sich den Augenwinkel. Die glänzenden Lippen bebten. »Oh, verdammt. Ich habe es die ganze Zeit geahnt.
    Aber… ich wusste wirklich nicht, verdammt! Die arme Janie… Das ist so… widerlich.«
    »Allerdings«, pflichtete Milo bei.
    Sie setzte sich kerzengerade auf, und es schien, als mobilisiere sie damit verborgene Energiereserven. Ihr Blick war plötzlich verändert, forschend, analytisch. »Und Sie, Sie kommen nach all der Zeit zu mir, weil…?«
    »Weil der Fall immer noch nicht abgeschlossen ist, Ms. Waters.«
    »Nicht abgeschlossen oder wieder aufgenommen?«
    »Offiziell ist er nie abgeschlossen worden.«
    »Sie wollen doch damit nicht sagen, dass die Polizei von L. A. seit zwanzig Jahren daran arbeitet?«
    »Spielt das eine Rolle, Ma'am?«
    »Nein… wahrscheinlich nicht. Ich rede nur so daher… Das ist einfach… Damit habe ich ganz und gar nicht gerechnet. Warum sind Sie hier?«
    »Weil Sie zu den letzten Menschen gehörten, die Janie Ingalls lebend gesehen haben, und trotzdem nie irgendjemand Ihre Aussage aufgenommen hat. Im Gegenteil, wir haben erst kürzlich erfahren, dass Sie selbst nicht auch einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sind.«
    »Zum Opfer gefallen? Sie dachten… o Gott!«
    »Sie waren sehr schwer zu finden, Ms. Waters. Genau wie Ihre Mutter«
    »Meine Mutter ist vor zehn Jahren gestorben«, sagte sie. »An Lungenkrebs, drüben in Pennsylvania, wo sie herkam. Vorher hatte sie schon ein Emphysem. Sie hat viel gelitten.«
    »Tut mir Leid, das zu hören.«
    »Mir hat es auch Leid getan«, sagte Waters. Sie nahm einen von mehreren goldenen Füllfederhaltern aus einem Cloisonné-Glas und balancierte ihn auf beiden Zeigefingern. Das Büro war

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