Das Buch der Toten
Motorraum mit Rostschutz gestrichen für all die Ausflüge bei kalter Witterung, aus denen dann doch nichts geworden war. Er war mit den Eingeweiden des Porsche vertraut. Nichts Ungewöhnliches zu entdecken.
Er schloss die Fahrertür auf, um sich die Papiertüte genauer anzusehen. Sie war nicht verschlossen, und der Inhalt lugte hervor.
Eine blaue Mappe. Kein glänzendes Leder wie bei Alex' kleinem Geschenk. Schlichtes blaues Leinen. Genau die Sorte, wie sie das Department benutzt hatte, bevor man auf Plastik umgestiegen war.
Er fasste den oberen Rand der Papiertüte mit den Fingerspitzen und trug sie ins Haus. Im Wohnzimmer setzte er sich an den Tisch; sein Herz raste, seine Hände waren eiskalt. Er wusste genau, was er in der Mappe finden würde. Und er wusste auch, dass es bei aller Gewissheit immer noch ein Schock sein würde.
Sein Kiefer war verkrampft, und sein Rücken schmerzte, als er die Mappe aufschlug und Janie Ingalls' Akte erblickte.
Eine sehr magere Akte. Obenauf Milos eigene Notizen, gefolgt von den offiziellen Leichenfotos. Tatsächlich: Schwinn hatte das Foto aus diesem Satz entnommen. Skizzen der Leiche mit detaillierter Darstellung aller Verletzungen, Zusammenfassung der Autopsieergebnisse. Keine Originale, sondern saubere, neue Fotokopien. Und dann nichts mehr. Keine toxikologischen Screenings, keine Laborergebnisse, keine Fahndungsberichte der Leute vom Metro Revier, die den Fall angeblich übernommen hatten. Entweder war das eine Lüge gewesen, oder es fehlten einige Seiten.
Er überflog den Autopsiebericht. Keine Angaben über Sperma, überhaupt kaum Angaben. Das musste so ungefähr der oberflächlichste Obduktionsbefund sein, den er je zu Gesicht bekommen hatte. »Die Wunden, die dieser weißen, untergewichtigen Jugendlichen zugefügt wurden, stammen von einer scharfen, einschneidigen…« Na, vielen Dank.
Kein Wort über die toxikologische Untersuchung, die er angefordert hatte. Aber er brauchte die offizielle Bestätigung nicht; Melinda Waters hatte schließlich ausgesagt, dass Janie schon zu Beginn des Abends high gewesen war.
Kein Sperma, keine fremden Blutgruppen. Die DNA-Analyse konnte man vergessen.
Aber ein Punkt in dem Autopsiebericht sprang ihm ins Auge: Fesselungsspuren an Janies Hand und Fußgelenken sowie an ihrem Hals. Dasselbe Muster wie bei ihrer Vergewaltigung in dem Hotel.
Vancy Coury hatte Janie bei der Party entdeckt und sich einen Nachschlag gegönnt. Und diesmal hatte er seine Kumpels mitmachen lassen.
Er las die Akte noch einmal durch. Keine neuen Erkenntnisse, aber irgendjemandem war daran gelegen, dass Milo sie zu Gesicht bekam.
Er stellte seine n Kopf mit Wodka und Grapefruitsaft ruhig, sah die Post durch und drückte die Abspieltaste des Anrufbeantworters. Eine Nachricht von Rick. Er hatte es Milo leicht gemacht, indem er sich eine Extraschicht aufgehalst hatte.
»Ich werde nicht vor morgen früh hier wegkommen; wahrscheinlich haue ich mich im Aufenthaltsraum kurz aufs Ohr, und später mache ich vielleicht noch eine kleine Tour. Pass gut auf dich auf… Ich liebe dich.«
»Ich dich auch«, murmelte Milo ins Leere. Obwohl er allein war, kamen ihm die Worte nur mühsam über die Lippen.
29
Um neun Uhr morgens öffnete ich Milo die Tür. Ich musste mir alle Mühe geben, um wenigstens so zu tun, als sei ich wach und zurechnungsfähig. In der Nacht war ich alle paar Stunden aufgewacht, geplagt von der Sorte Gedanken, die einem die Seele zerfressen.
Dreimal hatte ich versucht, Robin anzurufen, ohne Erfolg. Das Hotelpersonal weigerte sich, mir zu verraten, ob sie abgereist war: Man sei auf die Sicherheit der Gäste bedacht. Die nächste Station war Denver. Ich sah sie im Bus sitzen, den schlafenden Spike auf, dem Schoß, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Dachte sie an mich oder an etwas ganz anderes? Milo drückte mir die blaue Mappe in die Hand. Ich blätterte darin, während ich ihn in mein Arbeitszimmer führte.
»Damals hast du auch nicht weniger Tippfehler gemacht«, bemerkte ich. »Irgendwelche Theorien über den Zusteller?«
»Jemand mit einem Talent fürs Autoknacken.«
»Derselbe Bote, der die Deluxe-Version geschickt hat?«
»Möglich.«
»Hört sich nicht nach Schwinns heimlicher Freundin an«, meinte ich. »Oder vielleicht ist das ja sexistisch gedacht auch Frauen können Autos knacken, nehme ich an.«
»Das war kein Amateur. Ich hab das Lenkrad und die Türgriffe nach Fingerabdrücken abgesucht. Nada. Und auf der Mappe sind auch bloß
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