Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
Haltung ließ den Unterschied viel größer erscheinen.
    »Ich bin Kunstmaler, und ich arbeite gerade an einem Bild«, beharrte Hansen.
    »Und ich arbeite gerade an einem Mordfall.«
    Hansens Kinnlade klappte herunter, sodass seine unregelmäßigen vergilbten Zähne sichtbar wurden. Aber dann machte er den Mund rasch wieder zu, warf einen Blick auf seine Uhr und einen zweiten über die Schulter.
    »Ich bin ein großer Kunstliebhaber«, sagte Milo. »Besonders gefallen mir die deutschen Expressionisten, diese beklemmende Atmosphäre.«
    Hansen glotzte ihn an und trat noch weiter zurück. Milo machte den Tanz mit und baute sich wenige Zentimeter vor dem besorgt dreinblickenden Hansen auf.
    Hansen sagte: »Ich hoffe, es dauert nicht allzu lange.«
    Im Haus war es kühl und düster, in der Luft hing ein Alte-Leute-Geruch nach Kampfer. Die angeschlagenen Terrakottafliesen setzten sich auf den Stufen einer schmalen Treppe mit Messinggeländer fort. Über die vier Meter hohe Decke zogen sich schwere Eichenbohlen, übersät mit Wurmlöchern und vom Alter fast gänzlich geschwärzt. Die Wände waren handverputzt, zwei Nuancen dunkler als die Außenfarbe, aber im gleichen Vanilleton, und sie waren mit leeren Nischen durchsetzt. Durch die kleinen Bleifenster, manche davon mit Buntglasdarstellungen von Szenen des Neuen Testaments, fiel nur wenig Licht in staubigen Regenbogenstrahlen ins Innere. Die Möbel waren schwer und dunkel und klobig. Keine Bilder an den Wänden. Man kam sich vor wie in einer schlecht besuchten Kirche. Nicholas Hansen bot uns ein durchgesessenes Fransensofa mit rauem Gobelinbezug an und nahm gegenüber von uns auf einem abgestoßenen Ledersessel Platz. Er faltete die Hände im Schoß.
    »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was Sie von mir wollen.«
    »Fangen wir doch mit den King's Men an«, sagte Milo. »An die erinnern Sie sich doch noch.«
    Hansen sah wieder auf seine Uhr, ein billiges Digitalteil mit schwarzem Plastikarmband.
    »Viel zu tun, wie?«, meinte Milo.
    Hansen erwiderte: »Es kann sein, dass ich das Gespräch unterbrechen muss, wenn meine Mutter aufwacht. Sie hat Darmkrebs im Endstadium, und die Krankenschwester hat heute ihren freien Tag.«
    »Tut mir Leid«, sagte Milo mit einem Mangel an Mitgefühl, den ich bei ihm noch nicht oft erlebt hatte.
    »Sie ist siebenundachtzig«, erklärte Hansen. »Hat mich mit fünfundvierzig bekommen. Ich habe mich schon immer gefragt, wie lange sie mir erhalten bleiben würde.« Er zupfte am Ärmel seines Sweatshirts. »Ja, ich erinnere mich an die King's Men.
    Warum bringen Sie mich nach all den Jahren mit ihnen in Verbindung?«
    »Wir sind im Zuge der Ermittlungen auf Ihren Namen gestoßen.«
    Hansen ließ wieder seine gelben Zähne sehen. Er kniff konzentriert die Augen zusammen. »Sie sind bei den Ermittlungen in einem Mordfall auf meinen Namen gestoßen?«
    »Es war ein ziemlich scheußlicher Mord.«
    »Ist das kürzlich passiert?«
    Milo schlug die Beine übereinander. »Wir werden schneller vorankommen, wenn ich die Fragen stelle.«
    Einem anderen Mann hätten sich an dieser Stelle vielleicht die Nackenhaare aufgestellt. Aber Hansen blieb still sitzen wie ein gehorsames Kind. »Ja, sicher. Ich bin nur…, die King's Men…, das war nur so eine alberne Highschool-Geschichte.« Er lallte ein wenig. Sein Blick ging zu den Deckenbalken empor. Ein fügsamer Mann. Der Alkohol erleichterte Milo die Aufgabe noch zusätzlich.
    Milo zückte seinen Notizblock. Als er die Kugelschreibermine herausklickte, zuckte Hansen zusammen, verharrte dann aber wieder reglos.
    »Fangen wir mit den grundlegenden Fakten an: Sie waren Mitglied der King's Men.«
    »Es würde mich wirklich interessieren, wie Sie eigentlich… ach, was soll's, bringen wir es schnell hinter uns«, sagte Hansen.
    »Ja, ich war Mitglied. Die letzten beiden Jahre an der University High. Ich bin erst im zweiten Jahr an die Schule gekommen. Mein Vater war leitender Angestellter bei Standard Oil, wir sind häufig umgezogen, und vorher hatten wir an der Ostküste gelebt. Während meines zweiten Highschool-Jahres wurde Vater nach L. A. versetzt, und wir haben uns schließlich ein Haus in Westwood gemietet. Ich war ziemlich orientierungslos. Ist auch nicht leicht, sich in diesen Zeiten zurechtzufinden, nicht wahr? Ich habe es meinen Eltern wohl ein wenig übel genommen, dass sie mich aus meiner gewohnten Umgebung gerissen hatten. Ich war immer ein gehorsames Kind gewesen, ein frühreifes, altkluges

Weitere Kostenlose Bücher