Das Buch der Toten
Einzelkind. Und als ich dann an die University High kam, dachte ich wohl, ich müsste unbedingt rebellieren und die King's Men schienen dafür recht gut geeignet.«
»Wieso?«
»Weil sie eine Bande von Faulenzern und Herumtreibern waren«, antwortete Hansen. »Kinder reicher Eltern, die ihre Zeit mit Saufen und Kiffen totschlugen. Sie haben es geschafft, von der Schule offiziell als gemeinnütziger Verein anerkannt zu werden, weil einer der Väter eine Menge Immobilien besaß und der Schule gestattete, seine unbebauten Grundstücke für Wohltätigkeitsveranstaltungen zu nutzen, Basare mit Kuchenverkauf, Autowaschtage und dergleichen. Aber den King's Men ging es nicht um Dienst an der Gemeinschaft, sondern nur ums Feiern.«
»Ein Vater mit Grundbesitz«, sagte Milo. »Vance Coury.«
»Ja, Vance' Vater.«
Hansen hob bei dem Wort »Vater« die Stimme, und Milo wartete ab, ob er noch etwas sagen würde. Als nichts mehr kam, fragte Milo: »Wann haben Sie Vance Coury das letzte Mal gesehen?«
»Bei der Highschool-Abschlussfeier«, sagte Hansen. »Ich habe mit keinem von Ihnen mehr Kontakt. Deswegen kommt mir das Ganze auch sehr sonderbar vor.«
Wieder ging der Blick nach oben. Hansen mochte ein braver Schüler gewesen sein, Lügen hatte er jedenfalls nicht gelernt.
»Sie haben sie alle seit der Abschlussfeier nicht mehr gesehen?«, fragte Milo. »Nicht ein einziges Mal?«
»Als wir unseren Abschluss machten, ging meine Entwicklung schon längst in eine andere Richtung. Sie wollten alle hier in Kalifornien bleiben, ich aber hatte einen Studienplatz an der Columbia. Mein Vater wollte, dass ich Betriebswirtschaft studiere, aber ich brachte endlich eine wirkliche Rebellion zu Stande und wählte Anthropologie als Hauptfach. Mein eigentliches Interesse galt der Kunst, aber das hätte zu viele Diskussionen gegeben. Auch so war Vater alles andere als begeistert, aber Mutter stand voll hinter mir.«
Ein dritter Blick auf die Uhr, dann hinüber zur Treppe. Dieses Einzelkind hoffte inständig, dass seine Mutter ihn erlösen würde.
Milo sagte: »Sie haben die Frage nicht wirklich beantwortet. Haben Sie irgendeinen der King's Men nach der Highschool noch einmal gesehen?«
Hansens trübe Augen wanderten ein weiteres Mal zur Decke; sein Mund begann zu zittern. Er versuchte, es mit einem Lächeln zu überspielen, und schlug die Beine übereinander, als wolle er Milo imitieren. Doch was locker wirken sollte, sah mehr nach einer krampfhaften Verrenkung aus.
»Vance und die Cossacks und Brad Larner habe ich wirklich nie wieder getroffen. Da war allerdings noch ein Junge, Luke Chapman, aber wir reden hier schließlich von Ereignissen, die zwanzig Jahre zurückliegen! Luke war… was genau wollen Sie eigentlich wissen?«
Milos Kiefer verkrampfte sich. Seine Stimme wurde verdächtig sanft. »Was war Luke?«
Hansen gab keine Antwort.
Milo sagte: »Sie wissen doch, dass er tot ist.« Hansen nickte. »Ausgesprochen tragisch.«
»Was wollten Sie eben über ihn sagen?«
»Dass er nicht besonders intelligent war.«
»Wann haben Sie ihn nach dem Highschool-Abschluss wiedergesehen?«
»Hören Sie«, sagte Hansen. »Sie müssen das im Kontext sehen. Er, Luke, war kein Genie. Ehrlich gesagt war er ziemlich beschränkt. Aber trotzdem habe ich ihn als einen der Besten in dem ganzen Haufen in Erinnerung. Und deshalb, geht es Ihnen um Lukes Badeunfall, oder was?«
»Wann sind Sie Chapman begegnet?«
»Nur ein einziges Mal«, antwortete Hansen.
»Wann?«
»Während meines ersten Jahres an der Uni.«
»In welchem Monat?«
»In den Winterferien. Dezember.«
»Also nur wenige Wochen vor Chapmans Tod durch Ertrinken.«
Hansen wurde bleich, und seine Augen richteten sich wieder auf die Eichenbohlen an der Decke. Er sank in seinem Sessel zusammen und sah plötzlich ganz klein aus. Ein ungeübter Lügner. Gut, dass er sich für den Beruf des Malers und nicht für den des Geschäftsmannes entschieden hatte. Milo klappte seinen Block zu, sprang auf, ging auf Hansen zu und legte seine Hand auf die Rückenlehne des Sessels. Hansen sah aus, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden.
»Erzählen Sie uns davon«, sagte Milo.
»Wollen Sie damit sagen, dass Luke ermordet wurde? Das ist so viele Jahre her… Wen verdächtigen Sie?«
»Erzählen Sie uns von Ihrer Begegnung mit Chapman.«
»Ich, das ist doch« Hansen schüttelte den Kopf. »Ich könnte einen Schluck gebrauchen. Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?«
»Nein, aber holen Sie
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