Das Buch der Toten
zögerte eine halbe Sekunde und strafte sich damit selbst Lügen, als er sagte: »Ich wünschte, ich hätte etwas, was ich dir verschweigen könnte. Alex, hör mal, ich weiß dein Engagement ja zu schätzen, aber wir können bis in alle Ewigkeit Theorien wälzen, ohne der Aufklärung von Janies Fall auch nur einen Millimeter näher zu kommen.«
»Und wie kommen wir ihr näher?«
»Wie gesagt, ich muss ein bisschen nachdenken.«
»Allein.«
»Manchmal«, sagte er, »geht's allein am besten.«
Als ich losfuhr, fragte ich mich, was es wohl sein mochte, was er mir vorenthielt. Er ließ mich nicht an seinen Überlegungen teilhaben, und das ärgerte mich. Der Gedanke an das, was mich zu Hause nicht erwartete, verwandelte den Ärger in panische Angst, und ehe ich recht wusste, was ich tat, hockte ich schon mit hochgezogenen Schultern und verbissener Miene am Steuer und fuhr ziellos durch die Straßen.
Es gibt nichts Schlimmeres als ein großes Haus, wenn man allein ist. Und es war alles meine Schuld.
Ich hatte die Sache verbockt, und zwar gründlich, Bert Harrisons weisem Rat zum Trotz. Wie die meisten erfahrenen Therapeuten neigte der alte Mann nicht dazu, ungebeten Ratschläge zu verteilen, aber bei meinem Besuch hatte er mich ausdrücklich davor gewarnt, mich, was Robin betraf, in unbegründeten Befürchtungen zu verlieren.
Hört sich an, als hätte da jemand aus einer Mücke einen Elefanten gemacht… Sie ist die Richtige für Sie.
Hatte er etwas gespürt, hatte er mir die Dummheit, die ich kurz darauf begehen würde, schon an der Nasenspitze angesehen? Warum, zum Teufel, hatte ich nicht auf ihn gehört?
Wildes Gehupe riss mich aus meinen Gedanken. Ich stand schon, wer weiß wie lange, an einer grünen Ampel an der Ecke Waiden und Sunset, und die hübsche junge Frau in dem Golf hinter mir war der Meinung, dass das eine wütende Grimasse und einen Stinkefinger verdient hatte.
Ich winkte ihr zu und gab Gas. Sie überholte mich, unterbrach sogar ihr Telefongespräch, um mir noch rasch den Vogel zu zeigen, und wäre in der nächsten Kurve beinahe mit ihrem VW gegen den Randstein gerauscht.
Ich wünschte ihr alles Gute und kehrte in Gedanken zu Bert Harrison zurück. Zu den anderen Ansichten, die der alte Mann an jenem Tag noch geäußert hatte, diesen scheinbar beiläufigen Bemerkungen, die er gegen Ende meines Besuchs hatte fallen lassen.
Reiner Zufall, oder jener alte Therapeutentrick, der sich die Macht des Abschiedswortes zu Nutze machte? Ich hatte ihn selbst Hunderte von Malen benutzt.
Bert hatte ganz zuletzt noch einmal auf Caroline Cossack angespielt. Völlig unvermittelt, lange nachdem wir über den Ingalls-Fall gesprochen hatten.
Dieses Mädchen… Das ist einfach ungeheuerlich, wenn es denn wahr ist.
Sie sind wohl skeptisch.
Ich finde es allerdings schwer zu begreifen, dass ein junges Mädchen zu solch einer brutalen Tat fähig sein soll.
Und dann hatte Bert seine Skepsis über die Vorstellung von Willie Burns als Lustmörder zum Ausdruck gebracht.
Ein Junkie im engeren Sinne, also Heroin?… Opiate tun vor allem eines, sie besänftigen… Ich habe jedenfalls noch nie von einem Junkie gehört, der eine derartige sexuelle Gewalttätigkeit an den Tag gelegt hätte.
Und jetzt sah es so aus, als hätte Bert damit absolut richtig gelegen.
War das alles nur die Intuition eines außergewöhnlich scharfsinnigen Mannes?
Oder wusste Bert etwas?
Hatte Schwinn noch Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Department an dem Ingalls-Fall gearbeitet? Hatte er Bert anvertraut, was er ans Licht gebracht hatte?
Bert hatte zugegeben, dass er Schwinn gekannt hatte, doch er hatte behauptet, es sei nur eine flüchtige Bekanntschaft gewesen. Zufällige Begegnungen im Foyer des Theaters.
Und wenn die Bekanntschaft nun alles andere als flüchtig gewesen war?
Schwinn hatte seine Drogenabhängigkeit erfolgreich bekämpft, und vielleicht hatte er das ohne fremde Hilfe geschafft. Aber eine begleitende Behandlung hätte gewiss schnellere Fortschritte erzielt, und Bert Harrison hatte als Assistenzarzt am Staatlichen Krankenhaus in Lexington auch Praxiserfahrung in der Suchtbehandlung gesammelt.
Schwinn als Berts Patient.
Psychotherapie. Dabei war schon so manches Geheimnis ans Tageslicht gekommen. Wenn auch nur irgendetwas davon zutraf, hatte Bert mich angelogen. Und das wäre eine Erklärung dafür, dass er sich so oft bei mir entschuldigt hatte. Für seine Zerknirschung, die mich zu der Zeit dermaßen befremdet hatte,
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