Das Buch der Toten
Drähte, die vor Spannung zischten und summten. Vielleicht würde eine hübsche, lange Autofahrt helfen, sie ein wenig abzukühlen.
Allein.
In dem Punkt hatte Milo Recht.
34
Milo ließ Beverly Hills hinter sich, während er über das Gespräch mit Nicholas Hansen nachgrübelte.
Der Mann war ein Jammerlappen, ein Muttersöhnchen und ein Trinker; ihn mit ein bisschen Einschüchterungstaktik zum Plaudern zu bringen, war für Milo eine seiner leichtesten Übungen gewesen. Aber würde Hansen auch bei seiner Geschichte bleiben, wenn er ein wenig Zeit gehabt hatte, die Sache zu verarbeiten, und sich vielleicht mit einem Anwalt beraten hatte? Und selbst wenn er dabei bliebe, seine Geschichte war trotzdem als Zeugenaussage unbrauchbar, da sie nur auf Hörensagen beruhte.
Milo wusste dennoch, was er zu tun hatte: nach Hause fahren, seine Notizen von dem Gespräch ins Reine schreiben, ohne auch nur ein Detail auszulassen, und dann die Reinschrift dort verstecken, wo er auch all die anderen Schätze aufbewahrte, die niemand anderen etwas angingen, in dem Safe im Boden seines Wandschranks.
Er nahm den Palm Drive Richtung Santa Monica, dann die diagonale Abkürzung zum Beverly Boulevard. Dabei fuhr er wie ein Gangster-Chauffeur: langsamer als sonst, um stets die ganze Umgebung im Blick zu haben, nicht zuletzt alles, was zwei, drei oder vier Autos hinter seinem gemieteten Olds unterwegs war. Er fuhr auch nicht die normale Route, sondern über La Cienega hinaus und dann wieder zurück über die Rosewood Avenue. Soweit er feststellen konnte, war die Luft rein.
Eines hatte das Gespräch mit Hansen bewirkt: Milo wusste jetzt, dass er nicht mehr von Janie ablassen konnte.
Die ganzen Jahre hindurch hatte er sich im Department jeden Blödsinn gefallen lassen und sein Selbstbild insgeheim mit aufmunternden Sprüchen zu stärken versucht, mit diesem Psychogeschwätz, von dem niemand etwas wissen durfte: Du bist anders. Edel. Der heldenhafte, alle Stereotype besiegende, schwule Krieger, der sich durch dieses gottverdammte Hetero-Universum kämpft.
Ein Rebell für eine verlorene Sache.
Vielleicht hatte dieses ganze Gesülze, mit dem er sich selbst etwas vorzumachen pflegte, ihm ja geholfen, Janie praktischerweise zu vergessen. Aber in dem Moment, als Alex ihm dieses Leichenfoto gezeigt hatte, da hatten sein Herzschlag und seine Schweißdrüsen ihn wissen lassen, dass er fast sein halbes Leben der schlimmsten Art von Betrug aufgesessen war.
Er hatte sich selbst beschissen.
War es das, was man Selbsterkenntnis nannte? Wenn ja, konnte es ihm gestohlen bleiben.
Er lachte lauthals, weil Fluchen zu einfallslos gewesen wäre. Er und Hansen glichen einander wie ein feiges, egoistisches Ei dem anderen. Alex, stets der Psychodoktor, stets der Freund, hatte es anders darzustellen versucht.
Vielen Dank, Doktor, aber das ändert nichts an den Tatsachen. Ja, der alte Nicholas mochte ein moralisches Weichei sein, aber die Begegnung mit ihm hatte Milos Entschlossenheit gefestigt.
Während er durch die ruhigen Straßen von West Hollywood kreuzte, legte er sich den nächsten riskanten Schritt zurecht: Er musste sich dem Mord annähern, indem er jemandem auf den Pelz rückte, der tatsächlich dabei gewesen war. Und der Auserwählte war Brad Larner. Denn heute, zwanzig Jahre nach der Highschool, war Larner der Underdog unter den King's Men, ein Loser, der zuerst für Daddy gearbeitet hatte und dann zum Handlanger für seine Kumpels herabgesunken war.
Einer dieser »Begleiter«. Eine Pfeife.
Einer, der den anderen nachlief. Wenn Vance Coury und die Cossacks Haie waren, dann war Larner ein Schildfisch, den man nur vom korrupten Leib seines Wirts zu pflücken brauchte.
Milo brannte darauf, sich den Dreckskerl allein in einem ruhigen kleinen Zimmer vorzuknöpfen. Aber Larner wohnte nicht in seinem eigenen Haus; gut möglich, dass er sich bei den Cossacks einquartiert hatte. Die Aufgabe bestand darin, sich ihn allein zu greifen, wenn die anderen nicht dabei waren. Auf, auf zum fröhlichen Jagen.
Trotz der geschärften Wahrnehmung, die sein Beruf mit sich brachte, wäre ihm der marineblaue Saab, der ihm kurz vor seinem Haus entgegenkam, unter normalen Umständen vielleicht nicht aufgefallen. Die strengen Vorschriften sorgten dafür, dass die Straßen in West Hollywood nicht übermäßig zugeparkt waren, aber für Anwohner gab es Sondergenehmigungen, und Hausbesitzer durften ihre Parkerlaubnis auf Gäste übertragen, sodass der eine oder andere
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