Das Buch der Toten
geändert. Er hatte Sturgis' Laufbahn verfolgt und erkannt, dass er ein guter Ermittler war. Er fand heraus, dass Sturgis homosexuell war, und er konnte sich vorstellen, dass er eine ordentliche Portion Mut brauchte, um es im Department auszuhalten.«
»Was hat Dr. Harrison Ihnen sonst noch über den Fall erzählt?«
»Nur, dass es wie ein Tumor an Pierces Gehirn genagt hätte, dass er den Fall aufgeben musste. Das war der wahre Grund für seine Albträume.«
»Chronische Albträume?«, fragte ich.
»Allerdings. Manchmal haben sie Pierce drei oder viermal in der Woche geplagt, und dann hatte er wieder eine Zeit lang Ruhe. Und dann, zack, fing es wieder von vorne an. Es gab keinerlei Vorwarnung, und das machte es umso schlimmer, denn ich wusste nie, was mich erwartete, wenn ich mich ins Bett legte. Es kam so weit, dass ich mich schon regelrecht vor dem Zubettgehen fürchtete und selbst mitten in der Nacht aus dem Schlaf aufschreckte.« Sie lächelte schief. »Es war schon irgendwie komisch, die eine Nacht lag ich neben ihm und konnte vor lauter Anspannung kein Auge zutun, während Pierce neben mir seelenruhig schnarchte, und am nächsten Morgen redete ich mir ein, dass es nun endlich vorbei sei. Und in der nächsten Nacht dann…«
»Hat Pierce in seinen Albträumen geredet?«
»Kein Wort. Er hat sich nur im Bett herumgewälzt und um sich geschlagen. Daran habe ich immer gemerkt, dass es wieder losging: Das Bett fing an zu wackeln und zu rumpeln, als ob die Erde bebte, aber es war nur Pierce, der auf der Matratze herumtrampelte. Er lag auf dem Rücken und strampelte mit den Füßen, als ob er marschierte. Und dann riss er plötzlich die Hände hoch.« Sie streckte selbst die Arme zur Decke, um es zu demonstrieren. »Als ob er festgenommen würde. Und dann schlug er die Hände mit voller Wucht auf die Matratze und fing an, darauf herumzuhämmern und wie wild zu fuchteln, und dann ging dieses Ächzen und Grunzen los, und gleichzeitig schlug und trat er weiter auf die Matratze ein, seine Füße standen keine Sekunde still. Und dann hat er plötzlich den Rücken durchgedrückt und ist erstarrt, er war wie paralysiert, es sah aus, als stünde er so unter Strom, dass er jeden Moment explodieren müsste, und er fing an, mit den Zähnen zu knirschen, die Augen traten ihm aus den Höhlen, aber man konnte erkennen, dass er einen gar nicht sah, er war ganz woanders, in einer Hölle, die niemand außer ihm sehen konnte. Er blieb vielleicht zehn Sekunden in dieser krampfhaften Starre, und dann ging es plötzlich los, dass er sich selbst mit den Fäusten traktierte, er schlug sich auf die Brust, in den Bauch, ins Gesicht. Manchmal war er am nächsten Morgen voller blauer Flecken. Ich hätte gerne verhindert, dass er sich selbst wehtat, aber es war unmöglich, seine Arme waren wie aus Eisen, und ich konnte froh sein, wenn ich mich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte, sonst hätte ich auch noch was abbekommen. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als dazustehen und abzuwarten, bis es vorbei war. Und kurz vorher stieß er dann noch diese Schreie aus, wie ein lautes Heulen, von dem sogar die Pferde wach wurden. Daraufhin fingen die dann an zu wiehern, und manchmal stimmten die Kojoten auch noch mit ein. Das war vielleicht ein Geräusch, dieses Gejaule der Kojoten, von ganz weit her. Haben Sie das mal gehört, wenn so ein ganzes Rudel loslegt? Das ist nicht so, wie wenn ein Hund bellt, das klingt, als würden tausend Tiere auf einmal durchdrehen. Angeblich machen sie das nur, wenn sie ein Beutetier er legen, oder in der Paarungszeit. Aber Pierce' Geheul konnte das bei ihnen auslösen.«
Sie hatte das blaue Tuch während ihrer Erzählung zu einem Ballen zusammengeknüllt. Nun betrachtete sie ihre Finger, als sie sich allmählich wieder lösten. »Diese Kojoten haben die Angst in Pierce' Stimme gehört, und das hat sie selbst in Panik versetzt.«
Sie bot mir etwas zu trinken an. Ich lehnte ab, und sie stand auf, um sich ein Glas Leitungswasser zu holen. Als sie wieder Platz genommen hatte, fragte ich: »Hatte Pierce irgendwelche Erinnerungen an seine Albträume?«
»Nein. Wenn der Anfall vorbei war, schlief er einfach wieder ein, und hinterher haben wir kein Wort darüber verloren. Als es das erste Mal passierte, habe ich versucht, es einfach zu ignorieren. Beim zweiten Mal war ich hinterher fix und fertig, habe aber immer noch nichts gesagt. Und nach dem dritten Mal habe ich mich an Dr. Harrison gewandt. Er hat mir
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