Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
aufgefallen. Auf keinem seiner Bilder waren Menschen oder Tiere zu sehen.«
    »Soll das vielleicht irgendeine großartige psychologische Analyse sein?«
    »Nein, ich fand es nur bemerkenswert.«
    »Tatsächlich? Ich nicht. Hat mich nicht im Geringsten gestört. Er hat einfach nur wunderschöne Fotos gemacht.« Sie griff an mir vorbei nach der Klinke und stieß die Tür auf. »Und als ich ihm diese Frage stellte, hatte er eine sehr gute Antwort parat. Er sagte: ›Margie, ich versuche nur, mir eine vollkommene Welt vorzustellen. ‹«

36
    Sie stand neben dem Seville und wartete darauf, dass ich losfuhr.
    Ich drehte den Zündschlüssel um und fragte: »Hat Dr. Harrison erwähnt, dass er in Urlaub fahren will?«
    »Er und Urlaub? Er fährt doch nie weg. Wieso fragen Sie?«
    »Er sagte mir, er würde vielleicht für eine Weile verreisen.«
    »Nun, wenn er verreisen will, ist das ja wohl sein gutes Recht. Warum fragen Sie ihn nicht selbst? Sie fahren doch sowieso gleich zu ihm, nicht wahr? Um meine Geschichte zu überprüfen.«
    »Ich werde mich mit ihm über den ungelösten Fall unterhalten.«
    »Ist ja auch egal«, erwiderte sie. »Lohnt sich nicht, mich zu überprüfen, weil ich nämlich nichts zu verbergen habe. Deshalb ist es ja so wichtig, sich erst gar nicht auf irgendwelche aussichtslosen Sachen einzulassen. Da macht man sich doch nur unnötige Sorgen. Schade nur, dass mein Pierce das nie wirklich eingesehen hat.«
    Die Abzweigung, die sie mir beschrieben hatte, mündete in einen von Eichen überschatteten Pfad, der gerade einmal breit genug für einen Golfkarren war. Zweige streiften links und rechts über das Blech des Seville. Ich setzte zurück, ließ den Wagen am Wegrand stehen und ging zu Fuß weiter.
    Die Stelle, wo Pierce Schwinn gestorben war, lag etwa eine halbe Meile weiter; eine enge, tief eingeschnittene Schlucht zwischen Granitfelsen, eine trockene Furche, die sich in der feuchten Jahreszeit in einen rasch dahinfließenden Gebirgsbach verwandeln würde. Jetzt hatte das Bachbett die Farbe ausgebleichter alter Knochen und war mit Schwemmsand, Felsbrocken und Steinen angefüllt, mit ledrigen Blättern und einem Gewirr vo n Zweigen, die der Wind abgebrochen hatte. Die größeren Felsbrocken waren zerklüftet und hatten zum Teil messerscharfe Kanten, die in der Sonne glitzerten.
    Wer mit dem Kopf darauf stürzte, hatte wahrlich keine großen Überlebenschancen.
    Ich trat an die Kante heran, blickte in den Arroyo herab und lauschte auf die Stille. Ich fragte mich, was ein gut trainiertes Pferd hier wohl zu einem Fehltritt veranlasst haben könnte.
    Über solche Gedanken verfiel ich in der warmen Nachmittagssonne in eine Art träge Starre. Plötzlich raschelte etwas hinter meinem Rücken, mein Herz machte einen Satz, meine Schuhspitze glitt ins Leere, und ich musste mich nach hinten werfen, um nicht kopfüber in den Abgrund zu stürzen.
    Ich konnte mich gerade rechtzeitig aufrappeln, um eine sandfarbene Eidechse ins Unterholz davonhuschen zu sehen. Ich trat von dem Felsvorsprung zurück und nahm mir ein paar Sekunden, um mich zu sammeln, bevor ich kehrtmachte und zum Wagen zurückging. Als ich dort anlangte, hatte sich meine Atemfrequenz schon fast wieder normalisiert.
    Ich fuhr zurück ins Zentrum von Ojai, bog in die Signal Street ein, kreuzte den mit Feldsteinen ausgelegten Entwässerungsgraben, parkte wieder im Schatten der Eukalyptusbäume und blickte zwischen den gezackten blauen Blättern hindurch auf Berts Haus. Ich dachte darüber nach, was ich zu Bert sagen würde, sollte ich ihn tatsächlich antreffen. Und ich dachte an Pierce Schwinns Albträume, an die Dämonen, die zurückgekommen waren und ihm in den letzten Tagen vor seinem Tod wieder zugesetzt hatten.
    Bert wusste, warum. Bert hatte es die ganze Zeit gewusst.
    Am Haus des alten Mannes rührte sich nichts. Der Kombi parkte noch immer auf demselben Platz. Nach einer Viertelstunde kam ich zu dem Schluss, dass es an der Zeit war, zur Tür zu gehen, zu klingeln und mich dem zu stellen, was ich dort vorfinden würde.
    Ich stieg soeben aus dem Seville aus, als die Haustür sich mit einem Knarren öffnete und Bert im vollen purpurroten Ornat auf die Veranda trat, im Arm eine große braune Papiertüte. Rasch hielt ich die Autotür fest, bevor sie ins Schloss fallen konnte, nahm hinter den Bäumen Deckung und beobachtete, wie der alte Mann die Holzstufen hinunterging.
    Er stellte die Papiertüte auf dem Beifahrersitz des Kombis ab, setzte sich ans

Weitere Kostenlose Bücher