Das Buch der Toten
zugehört, hat nicht viel gesagt, und noch am Abend desselben Tages ist er vorbeigekommen und hat Pierce eine n Besuch abgestattet, unter vier Augen, in Pierce' Dunkelkammer. Danach ist Pierce wieder regelmäßig zu ihm in die Therapie gegangen. Etwa eine Woche darauf hat Dr. H. mich zu sich nach Hause gebeten, und bei dieser Gelegenheit hat er mir erklärt, wie Pierce noch immer mit seinem Gefühl des Versagens zu kämpfen hatte.«
»Sie haben mit Pierce nie offen über den Fall gesprochen?«
»Nein.«
Ich schwieg.
Sie sagte. »Ich weiß, es fallt Ihnen schwer, das zu begreifen, aber so haben wir es nun einmal gehalten. Wir waren einander so nahe, wie zwei Menschen es nur sein können, aber wir hatten beide unsere Seiten, über die wir nicht miteinander gesprochen haben. Mir ist schon klar, dass es heutzutage als unmodern gilt, seine Privatsphäre wahren zu wollen. Jeder redet mit jedem über alles. Aber das ist doch alles nur Theater, nicht wahr? Jeder Mensch hat geheime Wünsche und Gedanken, und Pierce und ich waren so ehrlich, es auch zuzugeben. Und Dr. Harrison sagte, wenn wir es so haben wollten, dann sei das unsere Entscheidung.«
Bert hatte also versucht, die beiden Partner zu größerer Offenheit zu bewegen, aber sie hatten sich dagegen gesperrt. Marge Schwinn sagte: »Es war dasselbe mit Pierce' Drogenproblem. Sein Stolz ließ es nicht zu, dass er sich vor mir diese Blöße gab, und deshalb hat er Dr. Harrison als Vermittler eingespannt. Damit waren wir beide zufrieden. Auf diese Weise blieb unser Verhältnis harmonisch und unbelastet.«
»Haben Sie Dr. Harrison jemals über den ungelösten Mordfall befragt?«
Heftiges Kopfschütteln. »Ich wollte es gar nicht genauer wissen. Ich dachte mir, wenn es Pierce so an die Nieren ging, müsste es schon ziemlich furchtbar gewesen sein.«
»Haben sich die Albträume je gelegt?«
»Nachdem Pierce wieder regelmäßig bei Dr. Harrison in Behandlung war, sind sie auf ungefähr zwei oder dreimal im Monat zurückgegangen. Und Pierce' Hobby, die Fotografie, hat ihm wohl auch geholfen. Dadurch kam er wenigstens mal vor die Tür und konnte ein bisschen frische Luft schnappen.«
»War das Dr. Harrisons Idee?«
Sie lächelte. »Ja, er hat Pierce die Kamera gekauft. Er bestand darauf, sie selbst zu bezahlen. So was macht er öfter. Er hat nun einmal Freude daran, die Menschen zu beschenken. Da war dieses Mädchen, das unten in der Stadt wohnte, Marian Purveyance, sie hat das Celestial Café geleitet, bevor Aimée Baker es übernommen hat. Marian litt an einer Muskelkrankheit, die sie nach und nach völlig auszehrte, und Dr. Harrison war ihr in der Zeit eine wichtige Stütze. Ich habe Marian öfter besucht, als es mit ihr schon zu Ende ging, und sie erzählte mir, dass Dr. Harrison gesagt hatte, sie brauche einen Hund zur Gesellschaft. Aber Marian war rein körperlich gar nicht in der Lage, sich um einen Hund zu kümmern, und deshalb hat Dr. Harrison ihr einen besorgt, einen alten, fast völlig lahmen Retriever aus dem Tierheim, den er bei sich zu Hause aufnahm und futterte und badete. Jeden Tag brachte er Marian den Hund für ein paar Stunden. Dieses brave alte Tier legte sich neben Marian aufs Bett, sodass sie ihn streicheln und kraulen konnte. Am Ende haben Marians Finger ihr nicht mehr recht gehorchen wollen, und der Hund muss das gewusst haben, denn er schob sich ganz dicht an Marian heran und legte ihr die Pfote auf die Hand, damit sie etwas zum Anfassen hatte. Als Marian starb, lag der alte Hund neben ihr im Bett, und ein paar Wochen später ist er dann auch eingegangen.«
Ihre Augen funkelten leidenschaftlich. »Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will, junger Mann? Dr. Harrison beschenkt die Menschen. Er hat Pierce die Kamera geschenkt, und mir hat er ein bisschen Frieden geschenkt, indem er mir versicherte, dass seine Albträume nichts mit mir zu tun hatten. Denn ich hatte mich schon gefragt, ob es an mir lag, ob Pierce vielleicht darunter litt, dass er hier mit einer alten Jungfer eingesperrt war, nachdem er so lange allein gelebt hatte. Und, der Herr möge mir verzeihen, als ich Pierce so wild um sich schlagen sah, da kam mir unwillkürlich der Gedanke, dass er vielleicht rückfällig geworden war.«
»Dass er wieder Drogen nahm?«
»Ich schäme mich, es zuzugeben, aber es stimmt, genau das habe ich mich in dem Moment gefragt. Denn es waren ja die Krämpfe von seiner Drogenvergiftung, die ihn damals ins Krankenhaus gebracht hatten, und für meinen
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