Das Buch der Toten
ungeschulten Blick sahen diese nächtlichen Anfälle genau wie solche Krämpfe aus. Aber Dr. Harrison versicherte mir, dass es etwas anderes sei. Er sagte, es seien schlimme Albträume, nur Pierce' altes Leben, das sein scheußliches Haupt erhob. Dass ich das Beste sei, was Pierce passieren konnte, und dass ich mir niemals einreden dürfe, es sei anders. Das war eine große Erleichterung für mich.«
»Die Albträume kamen also nur noch zwei oder dreimal im Monat?«
»Ja, und damit konnte ich leben. Wenn das Gepolter losging, stand ich einfach auf, ging in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen, schaute kurz bei den Pferden vorbei, um sie zu beruhigen, und wenn ich wieder zurückkam, schnarchte Pierce schon wieder friedlich vor sich hin. Dann hielt ich seine Hand, um sie zu wärmen, von den Albträumen bekam er immer eiskalte Hände. Und so lagen wir dann zusammen im Bett, und ich lauschte auf seinen Atem, der langsam ruhiger wurde, und er ließ sich von mir im Arm halten und wärmen, und so ging die Nacht vorbei.«
Wieder strich der Schatten eines Bussards über die Wand.
»Diese Vögel«, sagte sie. »Die müssen doch irgendwas riechen.«
»Die Albträume hatten nachgelassen«, sagte ich, »aber ein paar Tage vor Pierce' Tod kamen sie wieder.«
»Ja«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Und da habe ich mir dann wirklich Sorgen um ihn gemacht, denn am Morgen danach sah Pierce alles andere als gut aus. Er wirkte erschöpft, irgendwie schwerfällig, und er nuschelte ein wenig. Deswegen mache ich mir Vorwürfe, dass ich ihn mit Akhbar habe ausreiten lassen. In seinem Zustand hätte er sich gar nicht auf ein Pferd setzen dürfen, ich hätte ihn nie allein reiten lassen dürfen. Vielleicht hatte er ja tatsächlich eine Art Krampfanfall.«
»Warum haben Sie Akhbar auf Drogen testen lassen?«
»Das war einfach meine Dummheit. In Wirklichkeit wollte ich Pierce untersuchen lassen. Denn trotz allem, was Dr. Harrison mir gesagt hatte, nachdem die Albträume wieder angefangen hatten, war ich schon wieder so weit, dass ich den Glauben an Pierce zu verlieren drohte. Aber nach seinem Tod brachte ich es dann nicht übers Herz, meinen Verdacht offen zu äußern, weder gegenüber Dr. H. noch gegenüber der Gerichtsmedizin oder irgendjemandem sonst und so habe ich sie stattdessen auf den armen Akhbar angesetzt. Ich dachte mir, wenn das Thema Drogen einmal angeschnitten wäre, würde vielleicht jemand auf die Idee kommen, auch Pierce zu testen, und dann würde ich ein für allemal Bescheid wissen.«
»Man hat Pierce' Leiche tatsächlich auf Drogen untersucht«, sagte ich. »Das wird routinemäßig gemacht. Das Drogenscreening war negativ.«
»Das weiß ich inzwischen auch. Dr. Harrison hat es mir gesagt. Es war schlicht und einfach ein Unfall. Obwohl ich mich immer noch nicht ganz von dem Gedanken freimachen kann, dass Pierce nicht allein hätte ausreiten dürfen. Denn er war wirklich nicht ganz auf dem Damm.«
»Haben Sie eine Ahnung, warum es ihm in dieser letzten Woche nicht so gut ging?«
»Nein, und ich will es auch nicht wissen. Ich muss das alles vergessen, und dieses Gespräch ist mir dabei nicht gerade eine Hilfe, also, könnten wir es jetzt bitte beenden?«
Ich dankte ihr und stand auf. »Wie weit ist der Unfallort von hier entfernt?«
»Nur ein kurzes Stück die Straße lang.«
»Ich würde mir die Stelle gerne ansehen.«
»Wozu?«
»Um mir besser vorstellen zu können, was passiert ist.«
Ihr Blick war fest. »Wissen Sie irgendetwas, was Sie mir noch nicht gesagt haben?«
»Nein«, antwortete ich. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
»Danken Sie mir nicht, ich habe Ihnen keinen Gefallen getan.« Sie sprang auf und ging an mir vorbei zur Tür.
Ich sagte: »Die Stelle«
»Fahren Sie zurück auf den Highway dreiunddreißig Richtung Osten und nehmen Sie die zweite Abfahrt links. Es ist eine ungeteerte Straße, die zuerst bergauf führt und dann hinunter zum Flussbett. Dort ist es passiert. Pierce und Akhbar sind von den Felsen oberhalb des Flussbetts abgestürzt und unten liegen geblieben. Pierce und ich sind dort öfter vorbeigekommen, wenn wir zusammen ausgeritten sind. Ich bin meistens vorangeritten.«
»Was Pierce' Fotografien betrifft«
»Nein«, sagte sie. »Bitte, keine Fragen mehr. Ich habe Ihnen bereits bei Ihrem ersten Besuch Pierce' Bilder gezeigt und seine Dunkelkammer und alles, was dazugehört.«
»Ich wollte nur sagen, dass er Talent hatte, aber eines ist mir doch
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