Das Buch der Toten
schnappte nach den Fotos, kein ernsthafter Versuch, nur eine unkoordinierte, fahrige Bewegung. Schwinn rührte sich keinen Millimeter, und jetzt wich Ingalls vor den Bildern des Grauens zurück und fasste sich mit beiden Händen an den Kop f, stampfte so heftig auf, dass der Fußboden bebte. Plötzlich packte er seinen melonenförmigen Bauch, beugte sich vor, wie von Krämpfen geschüttelt. Stampfte wieder mit dem Fuß auf und schrie: »Nein!« Hörte gar nicht mehr auf zu schreien.
Schwinn ließ ihn eine Weile toben, dann schob er ihn behutsam zu der Lücke auf dem Sofa und sagte zu Milo:
»Besorg ihm eine Stärkung.« Milo fand eine ungeöffnete Bierdose, riss sie auf und hielt sie Ingalls an die Lippen, doch der schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nein! Bleiben Sie mir ja mit dem Zeug vom Leib.«
Der Typ ist permanent benebelt, aber wenn er wirklich am Boden ist, will er von dem Zeug nichts wissen. Milo schätzte, dass das auch eine Art von Würde war.
Er und Schwinn standen eine halbe Ewigkeit lang einfach nur da. Schwinn wirkte gelassen, er war so etwas gewöhnt. Oder machte es ihm gar Spaß?
Endlich sah Ingalls auf. »Wo?«, fragte er. »Wer?«
Schwinn klärte ihn mit leiser, ruhiger Stimme über die wesentlichen Fakten auf. Ingalls wimmerte während des gesamten Vortrags unentwegt vor sich hin.
»Janie, Janie«
»Können Sie uns irgendetwas sagen, das uns weiterhelfen würde?«, fragte Schwinn.
»Nichts. Was kann ich denn schon sagen…?« Ingalls erschauderte. Zitterte und verschränkte die dürren Arme vor der Brust. »Das… wer würde denn… o Gott… Janie…«
»Erzählen Sie uns etwas«, drängte Schwinn. »Irgendetwas. Helfen Sie uns.«
»Was… Ich weiß nicht… Sie ist nicht… seit sie vierzehn ist, wohnt sie praktisch nicht mehr hier, hat die Wohnung nur als Schlafplatz für den Notfall benutzt, und zu mir hat sie gesagt, ich soll ihr den Buckel runterrutschen und mich um meinen eigenen Dreck kümmern. Die halbe Zeit war sie gar nicht hier, verstehen Sie?«
»Hat bei Freundinnen übernachtet«, sagte Schwinn. »Bei Melinda und anderen.«
»Ja, was weiß ich… O Gott, ich kann das nicht glauben…« Ingalls' Augen füllten sich mit Tränen, und Schwinn kam ihm mit einem schneeweißen Taschentuch zu Hilfe. Ein mit Goldfaden gesticktes Monogramm in der Ecke: PS. All dieses zynische, pessimistische Gerede, und dann bietet der Kerl einem verwahrlosten Alkoholiker sein gestärktes Leinentaschentuch an, alles nur im Interesse des Jobs.
»Helfen Sie mir«, flüsterte er Ingalls zu. »Um Janies willen.«
»Das würde ich ja… Ich weiß nicht… sie… ich… wir haben nicht miteinander geredet. Nicht mehr, seit… Sie war immer mein kleines Mädchen, aber dann wollte sie plötzlich nicht mehr mein kleines Mädchen sein und hat nur noch gesagt, ich soll mich verpissen. Ich will ja nicht behaupten, dass ich als Vater irgendwas getaugt hätte, aber trotzdem, ohne mich wäre Janie doch… Als sie dreizehn war, schien ihr plötzlich alles egal zu sein. Da hat sie angefangen auszugehen, wann es ihr gerade passte, und die Schule hat sich einen Scheißdreck drum gekümmert. Janie ist einfach nie hingegangen, aber von der Schule hat mich nie irgendjemand angerufen, nicht einmal.«
»Haben Sie dort angerufen?«
Ingalls schüttelte den Kopf. »Was soll das denn bringen, mit Leuten zu reden, denen sowieso alles am Arsch vorbeigeht? Wenn ich angerufen hätte, dann hätten sie mir wahrscheinlich die Bullen geschickt und mich wegen irgendwas einkassiert, wegen Vernachlässigung meiner elterlichen Pflichten oder was weiß ich. Ich hatte zu tun, Mensch. Ich habe gearbeitet, ich war bei den Paramount-Studios beschäftigt.«
»Ach, tatsächlich?«, sagte Schwinn.
»Ja. PR-Abteilung. Informationstransfer.«
»Hat sich Janie für die Filmindustrie interessiert?«
»Nee«, antwortete Ingalls. »Was ich gemacht habe, hat sie grundsätzlich nicht interessiert.«
»Was hat sie denn interessiert?«
»Gar nichts. Außer Rumstreunen.«
»Diese Freundin, Melinda, wenn Janie Ihnen nie gesagt hat, wo sie hinging, woher wussten Sie dann, dass sie am Freitag bei Melinda war?«
»Weil ich sie am Freitag mit Melinda gesehen habe.«
»Um wie viel Uhr?«
»So gegen sechs. Ich habe geschlafen, und da ist Janie plötzlich reingeplatzt, um sich ein paar Klamotten zu holen. Ich bin aufgewacht, aber kaum war ich aufgestanden, da ist sie schon wieder zur Tür raus. Ich hab da rausgeschaut« er deutete mit dem Daumen
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