Das Buch der Toten
Rest deines armseligen Lebens damit, in irgendeiner Loser-Wohnwagensiedlung Tomaten zu züchten.
Lange Minuten versickerten wie Sirup.
Milo sagte: »Ein ungeklärter Mordfall, und wir sitzen hier rum?«
»Was ist denn die Alternative, Sherlock?«, fragte Schwinn und deutete mit dem Daumen auf das rosa Haus. »Wir gehen da rein und reden mit dem Arschloch, und vielleicht ist seine Tochter das Mädchen, das massakriert wurde, vielleicht auch nicht. Im ersten Fall sind wir auf einer Strecke von hundert Meilen ein paar Millimeter vorangekommen, im anderen Fall stehen wir immer noch am Start. So oder so haben wir nichts, worauf wir stolz sein könnten.«
8
Ebenso schnell, wie seine Stimmung umgeschlagen war, sprang Schwinn aus dem Wagen.
Der Kerl war zweifellos psychisch labil, dachte Milo, als er dem weißhaarigen Mann zu dem pinkfarbenen Haus folgte. Die Haustür war nicht verschlossen. Drinnen auf der rechten Seite zwölf Briefkästen. Genau wie Milo es sich vorgestellt hatte.
Tolle Leistung, du Experte. Auf dem Briefkasten Nr. 11 stand in verschmierter roter Kugelschreiberschrift Ingalls . Sie gingen die Treppe hoch. Als sie im zweiten Obergeschoss ankamen, rang Schwinn schon nach Luft. Er zog seine Krawatte stramm und hämmerte an die Tür. Ein paar Sekunden später wurde sie geöffnet.
Der Mann, der ihnen aufmachte, hatte trübe, verschlafene Augen und war dürr und fett zugleich. Überall scharf hervortretende Knochen, streichholzdürre Gliedmaßen und schlaffe, fahlgelbe Haut, aber ein Bauch wie eine Wassermelone. Er trug ein schmutziggelbes Unterhemd und blaue Badeshorts. Kein Hüftspeck, kein Hintern, und unter seiner Wampe waren ihm die Shorts viel zu weit. Kein Gramm Fleisch zu viel, außer am Bauch. Aber was er da mit sich herumtrug, war grotesk, und Milos erster Gedanke war: schwanger .
»Bowie Ingalls?«, sagte Schwinn.
Zwei Sekunden Verzögerung, dann ein knappes, misstrauisches Nicken. Der säuerliche Biergeruch des Schweißes, der aus seinen Poren drang, breitete sich im Flur aus.
Schwinn hatte Milo keine Beschreibung des Kerls geliefert, hatte es auch sonst nicht für nötig befunden, ihn irgendwie vorzubereiten. Milo schätzte Ingalls auf Mitte vierzig; sein langes, dichtes schwarzes Haar fiel ihm in Wellen bis über die Schultern, zu lang und üppig für einen Mann seines Alters und die grauen Fünf-Tage-Stoppeln konnten seine weichen, nichts sagenden Gesichtszüge nicht verbergen. Seine Augen blickten leer; wo sie nicht blutunterlaufen waren, hatten sie eine ungesunde gelbliche Farbe; die Iris tiefbraun, wie die des toten Mädchens.
Ingalls betrachtete eingehend ihre Dienstmarken. Irgendwie hinkte der Typ der Zeit hinterher, wie eine Uhr mit kaputtem Werk. Er zuckte, dann grinste er und fragte: »Was'n los?« Er stieß die Worte keuchend hervor. Die Wolke von Hopfen und Malzdüften, die seinem Mund entströmte, mischte sich mit den Gerüchen, mit denen die Wände des Hauses gesättigt schienen: Schimmel und Petroleum, und dazu, irgendwie unpassend, das Aroma herzhafter Hausmannskost.
»Dürfen wir reinkommen?«, fragte Schwinn.
Ingalls hatte die Tür halb geöffnet. Hinter ihm waren schmutzfarbene Möbel zu sehen, achtlos hingeworfene Kleidungsstücke, leere China-Imbiss-Kartons und Bierdosen.
Reichlich leere Bierdosen, manche zerdrückt, andere noch intakt. Selbst wenn man ein sehr rasantes Tempo voraussetzte, ließ die Anzahl der Dosen auf mehr als einen Tag ernsthafter Trinkerei schließen.
Ein mehrtägiges Besäufnis. Es sei denn, der Typ hätte Gesellschaft gehabt. Aber auch dann sah es noch nach einem hochkonzentrierten Zechgelage aus.
Da ist die Tochter dieses Typen seit vier Tagen spurlos verschwunden, und er meldet es nicht einmal, sondern verkriecht sich in sein Loch und zischt ein Bier nach dem anderen. Milo konnte nicht umhin, sich das Worst-Case-Szenario auszumalen: Daddy hat es getan. Er begann Ingalls' bleiches Gesicht nach Anzeichen von Angst oder Schuld abzusuchen, nach Kratzern… vielleicht erklärte das ja seine verzögerten Reaktionen.
Aber alles, was er dort sah, war Verwirrung. Ingalls stand da, ratlos und benebelt.
»Sir«, sagte Schwinn und ließ die Anrede wie eine Beleidigung klingen, so wie es nur Cops fertig bringen, »dürften wir hereinkommen?«
»Äh, ja, sicher. Worum geht's denn?«
»Worum's geht, ist Ihre Tochter.«
Ingalls senkte den Blick. Keine Angst. Nur Resignation. Als wollte er sagen: Ist es wieder mal so weit? Als ob er damit rechnete,
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