Das Buch der Toten
auf die verdunkelten Fenster »und da hab ich sie mit Melinda weggehen sehen.«
»In welche Richtung sind sie gegangen?«
»Da lang.« Der Finger zeigte nach Norden. Richtung Sunset, vielleicht Hollywood Boulevard, falls die Mädchen weitergegangen waren.
»War noch jemand bei ihnen?«
»Nein, nur die beiden.«
»Sie sind zu Fuß gegangen, nicht gefahren?«, fragte Schwinn.
»Janie hatte keinen Führerschein. Ich habe ein Auto, aber das fahrt kaum noch. Hätte gerade noch gefehlt, dass ich sie, aber ihr war's sowieso egal. Ist überallhin getrampt. Ich hab ihr's erklärt ich bin ja auch getrampt, damals, als man das noch machen konnte, aber jetzt, mit all den, glauben Sie, dass es so passiert ist? Sie ist getrampt, und irgendein… o Gott!«
Wusste er vielleicht gar nichts von Janies Vergewaltigung in Downtown? Wenn dem so war, dann hatte der Kerl wenigstens in einem Punkt die Wahrheit gesagt: Er hatte schon sehr lange keinen echten Kontakt mehr zu Janie gehabt.
»Irgendein was?«, fragte Schwinn.
»Irgendein, Sie wissen schon«, stöhnte Ingalls. »Aufgegabelt von irgendeinem Fremden.«
Die Leichenfotos waren wieder im Umschlag, aber Schwinn hatte ihn noch nicht eingesteckt. Jetzt wedelte er damit Zentimeter vor Ingalls' Gesicht herum. »Ich würde ja sagen, Sir, dass nur ein Fremder so etwas tun würde. Es sei denn, Sie hätten da eine andere Idee.«
»Ich? Nein«, erwiderte Ingalls. »Sie war wie ihre Mutter. Hat nicht geredet, geben Sie mir das Bier da.«
Als die Dose leer war, schwenkte Schwinn erneut den Umschlag. »Kommen wir noch mal auf den Freitag zurück. Janie kam nach Hause, um Klamotten zu holen. Was hat sie angehabt?«
Ingalls dachte nach. »Jeans und ein T-Shirt, ein rotes T-Shirt… und solche verrückten schwarzen Schuhe mit diesen hohen Absätzen, Plateausohlen. Ihre Partyklamotten hatte sie in der Tasche bei sich.«
»Partyklamotten.«
»Als ich aufgewacht bin und sie hab rausgehen sehen, da konnte ich ein bisschen was von dem erkennen, was sie in der Tasche hatte.«
»Was für eine Tasche war das?«
»Eine Einkaufstasche. Weiß, wahrscheinlich von Zody's, da kauft sie nämlich immer ein. Sie hat immer ihre Partyklamotten in eine Einkaufstasche gestopft.«
»Was haben Sie in der Tasche gesehen?«
»Ein rotes Oberteil, so ein rückenfreies, ungefähr so groß wie ein Heftpflaster. Ich hab ihr immer wieder gesagt, dass das Nuttenfummel ist und dass sie es wegschmeißen soll, hab ihr immer gedroht, dass ich's selber wegschmeißen würde.«
»Aber das haben Sie nicht getan.«
»Nein«, sagte Ingalls. »Was hätte das denn gebracht?«
»Ein rotes Oberteil«, sagte Schwinn. »Was noch?«
»Mehr hab ich nicht gesehen. Wahrscheinlich noch ein Rock, eines von diesen Supermini-Teilen, was anderes kauft sie sich nicht. Die Schuhe hatte sie schon an.«
»Schwarz mit hohen Absätzen.«
»Glänzend schwarz«, sagte Ingalls. »Lackleder. Diese albernen Absätze, ich hab ihr ständig gesagt, irgendwann fällst du mal hin und brichst dir den Hals.«
»Party-Outfit«, sagte Schwinn. Er schrieb mit.
Rotschwarzes Party-Outfit, dachte Milo. Er erinnerte sich plötzlich an etwas, was sie auf der Highschool immer gesagt hatten, wenn die Jungs zusammengehockt und über die anderen gelästert hatten. Sie hatten mit den Fingern gezeigt und gegrinst: Rot und Schwarz am Freitag bedeutete, dass ein Mädchen zu allem bereit war. Er hatte mitgelacht und so getan, als ob es ihn interessierte…
Bowie Ingalls sagte: »Abgesehen von Jeans und T-Shirts kauft sie sich weiter gar nichts. Nur Partyklamotten.«
»Da wir gerade davon reden«, sagte Schwinn, »lassen Sie uns doch mal einen Blick in ihren Kleiderschrank werfen.«
Der Rest der Wohnung bestand aus zwei Schlafzimmern, winzig wie Zellen und getrennt durch ein fensterloses Bad mit abgestandener Luft, die nach Blähungen roch.
Im Vorübergehen warfen Schwinn und Milo einen Blick in Bowie Ingalls' Schlafkammer. Eine überbreite Matratze nahm fast den gesamten Fußboden ein. Die schmutzige Bettwäsche war halb abgezogen und ergoss sich über den billigen Teppichboden. Ein winziger Fernseher thronte wacklig auf einer Pressholzkommode. Noch mehr leere Bierdosen.
Janies Zimmer war noch kleiner; es bot gerade einmal Platz für eine einfache Matratze und ein Nachttischchen aus dem gleichen synthetischen Holz. Poster aus Teenager-Magazinen waren schief und unordentlich an die Wände geklebt. Auf dem Nachttisch saß zusammengesunken ein einsamer
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