Das Buch der Toten
lange blonde Haare. Glatt.«
»Üppige Formen«, sagte Schwinn genießerisch.
»Wenn Sie so wollen.«
»Und sie ist so alt wie Janie?«
»Vielleicht ein bisschen älter«, antwortete Ingalls.
»Auch zehnte Klasse?«
»Keine Ahnung.«
»Hat einen schlechten Einfluss«, sagte Schwinn.
»Ja.«
»Haben Sie ein Foto von Janie? Eines, das wir herumzeigen könnten?«
»Ich müsste eigentlich eines haben, oder?«, sagte Bowie. Es klang wie eine Antwort in einer mündlichen Prüfung. Er stand schwerfällig auf, wankte in Richtung Schlafzimmer und kam wenige Augenblicke später mit einem Foto in der Hand zurück.
Es zeigte ein etwa zehnjähriges Mädchen mit dunklen Haaren, das ein ärmelloses Kleid trug und eine ein Meter fünfzig große Mickeymaus anstarrte. Mickey mit seinem bekannten idiotischen Grinsen, das Mädchen alles andere als begeistert, eher verängstigt. Unmöglich, eine Verbindung zwischen diesem Kind und dem Mordopfer von der Beaudry Avenue herzustellen.
»Disneyland«, erklärte Ingalls.
»Sie sind mit Janie dorthin gefahren?«, fragte Milo. Es fiel ihm schwer, sich das vorzustellen.
»Nee, das war eine Klassenfahrt. Sie haben Gruppenermäßigung gekriegt.«
Schwinn gab Ingalls das Foto zurück. »Ich hatte eher an etwas Neueres gedacht.«
»Ich sollte eigentlich was haben«, meinte Ingalls, »aber ich kann es ums Verrecken nicht finden, wenn ich's noch finde, ruf ich Sie an.«
»Mir ist aufgefallen, dass es in Janies Zimmer kein Tagebuch gibt«, sagte Milo.
»Wenn Sie das sagen.«
»Sie haben nie ein Tagebuch oder einen Kalender bei ihr gesehen, oder vielleicht ein Fotoalbum?«
Ingalls schüttelte den Kopf. »Ich hab immer die Finger von Janies Zeug gelassen. Aber so was hatte sie bestimmt nicht. Janie hat nicht gern geschrieben. Mit dem Schreiben hatte sie so ihre Probleme. Ihre Mutter war genauso, hat nie richtig lesen gelernt. Ich hab versucht, Janie was beizubringen. Die Schule hat sich ja einen Scheißdreck drum gekümmert.«
Papa Suffkopf, wie er mit der kleinen Janie über ihren Schulheften hockte und ihr Nachhilfe gab, schwer vorzustellen.
Schwinn runzelte die Stirn, offenbar strapazierte die Tendenz von Milos Fragen seine Geduld. Er drehte den Türknauf mit einer heftigen Bewegung um. »Guten Tag, Mr. Ingalls.«
Als die Tür ins Schloss fiel, rief Ingalls ihnen nach: »Sie war mein Kind!«
»Was für ein blöder Arsch«, sagte Schwinn, als sie zur Hollywood High unterwegs waren. »Dumme Eltern, dumme Kinder. Die Gene. Darauf wolltest du doch hinaus mit deinen Fragen über die Schule, stimmt's?«
»Ich dachte, dass sie wegen ihrer Lernschwierigkeiten vielleicht eher zum Opfer werden konnte«, sagte Milo.
»Jeder kann zum Opfer werden«, brummte Schwinn.
Die Schule war ein hässlicher, graubraun verputzter Betonklotz, der einen ganzen Block auf der Nordseite des Sunset Boulevard unmittelbar westlich der Highland Avenue einnahm. So unpersönlich wie ein Flughafen und Milo spürte den Fluch der Perspektivlosigkeit, kaum dass er einen Fuß in den Schulhof gesetzt hatte. Er und Schwinn kamen an Scharen von Schülern vorbei, Tausende, wie es schien, ein Gesicht gelangweilter, mürrischer, teilnahmsloser als das andere. Ein Lächeln oder gar ein Lachen war eine auffallende Abweichung von der Norm, und die beiden Polizisten ernteten ausnahmslos feindselige Blicke.
Als sie einen Lehrer nach dem Weg fragten, stießen sie auf eine ähnlich eisige Reaktion und im Büro des Direktors erging es ihnen kaum besser. Während Schwinn mit einer Sekretärin sprach, blieb Milo in dem nach Schweiß riechenden Korridor stehen und beobachtete die vorbeikommenden Mädchen. Eng anliegende, möglichst spärliche Bekleidung und nuttenhaftes Makeup schienen voll im Trend zu sein, alles junge, kaum voll entwickelte Körper, die etwas versprachen, was sie vielleicht gar nicht geben konnten. Er fragte sich, wie viele potenzielle Janies hier wohl herumliefen.
Der Direktor war bei einer Sitzung in der Stadt, und die Sekretärin verwies sie an den stellvertretenden Direktor, der sie wiederum eine Etage tiefer in die Schülerberatungsstelle schickte. Die Beraterin, mit der sie dort sprachen, war eine junge Frau namens Ellen Sato, eine zierliche Eurasierin mit langen, nach außen geschwungenen Haaren, die an den Spitzen blond gefärbt waren. Als sie von dem Mord an Janie hörte, entgleisten ihr die Gesichtszüge, und Schwinn machte sich ihre Betroffenheit zu Nutze, indem er sie mit seinen Fragen
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