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Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Stunde, bevor meine Vorlesung anfangt.« Dieselbe sanfte Stimme wie am Telefon. Sie winkte, und einer der greisen Ober riss sich von der Plauderei mit seinen Kollegen los, brachte die Karte und wartete an unserem Tisch.
    »Was würden Sie empfehlen?«, fragte ich sie.
    »Das Entrecôte ist hervorragend. Ich mag es ja englisch und blutig, aber es gibt hier auch eine ziemlich gute Auswahl an zivilisierteren Speisen, falls Sie nicht auf rotes Fleisch stehen.«
    Der Ober trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Was möchten Sie trinken, Sir? Wir haben eine gute Aus wahl an exklusiven Bieren.« Ich hatte einen französischen Akzent erwartet, aber seine gedehnte Aussprache war hundert Prozent Kalifornien, Typ gealterter Surferboy, und ich musste unwillkürlich über eine Zukunft nachdenken, in der Großmütter mit Namen wie Amber und Heather und Tawny und Misty herumlaufen würden.
    »Ein Grolsch«, sagte ich. »Und ich hätte gerne das Entrecôte, medium.«
    Er ging. Allison strich ihr ohnehin schon glattes Haar noch glatter und drehte ihr Weinglas zwischen den Fingern. Sie mied meinen Blick.
    »Was genau machen Sie im Saint-Agnes-Hospiz?«
    »Sie kennen doch das Haus.«
    »Ich habe davon gehört.«
    »Ich bin dort nur ehrenamtlich tätig«, sagte sie. »In erster Linie helfe ich dem Personal, mit der psychischen Belastung fertig zu werden. Arbeiten Sie noch in der Onkologie?«
    »Nein, schon länger nicht mehr.«
    Sie nickte. »Das kann einem schon an die Nieren gehen.« Sie trank einen Schluck Wein.
    »Wo unterrichten Sie?«, fragte ich.
    »An der Uni, Abteilung Erwachsenenbildung. In diesem Quartal biete ich Persönlichkeitstheorie und Zwischenmenschliche Beziehungen an.«
    »All das, und dann noch die Praxis. Klingt nach viel Arbeit«, sagte ich.
    »Ich bin ein Workaholic«, erwiderte sie mit einem plötzlichen Anflug von Fröhlichkeit. »Hyperaktivität, in sozialverträglicher Weise kanalisiert.«
    Mein Bier wurde gebracht. Wir tranken beide. Ich wollte eben zum Thema kommen, als sie sagte: »Das Mädchen, das Sie beschrieben haben, war das zufällig Caroline Cossack?«
    Ich stellte mein Glas ab. »Sie haben Caroline gekannt?«
    »Sie war es also wirklich.«
    »Woher wussten Sie das?«
    »Ich habe es aus Ihrer Beschreibung geschlossen.«
    »Ist sie aufgefallen?«
    »O ja.«
    »Was können Sie mir über sie sagen?«
    »Nicht viel, fürchte ich. Sie fiel auf, weil man sie als auffällig eingestuft hatte. Ihre Karteikarte hatte einen pinkfarbenen Reiter, als Einzige, soweit ich das erkennen konnte. Und ich habe fast alle Karteikarten gesehen. Ich war in diesem Sommer nämlich Mädchen für alles, machte Botengänge, musste Akten hin und her schleppen. Sie hatten dort ein System von Farbsymbolen, durch die das Personal auf besondere medizinische Probleme der Jugendlichen aufmerksam gemacht wurde. Gelb für Jugenddiabetes, blau für Asthma und so weiter. Caroline Cossacks Karte hatte eine pinkfarbene Markierung, und als ich fragte, was das bedeutete, bekam ich zur Antwort, das sei eine Verhaltenswarnung. Hohes Risiko von unberechenbaren Ausbrüchen. Dazu dann noch Ihr Hinweis, dass es sich vielleicht um einen Fall für die Polizei handelt, und den Rest konnte ich mir zusammenreimen.«
    »Caroline stellte also ein Gewaltrisiko dar?«
    »Damals waren wohl einige Leute dieser Meinung.«
    »Worauf bezogen sich diese Befürchtungen im Einzelnen?«, fragte ich.
    »Ich weiß es nicht. Während des Monats, als ich dort war, hat sie sich nie etwas zu Schulden kommen lassen.«
    »Aber sie war die Einzige, die so eingestuft war?«
    »Ja«, antwortete sie. »Es waren ja sowieso nicht viele. Vielleicht dreißig. Damals war Achievement House genau das, was es auch heute noch ist: eine Verwahranstalt für Kinder aus reichen Familien, die die Erwartungen ihrer Eltern nicht erfüllt hatten. Kinder des kalifornischen Traums, die ständig die Schule schwänzten, Drogen nahmen und sich generell verweigerten.«
    Ich dachte: Wenn man sich den kalifornischen Traum wegdenkt, hat man genau die Beschreibung von Janie und Melinda.
    »Aber«, fuhr sie fort, »es waren im Grunde harmlose Kids. Abgesehen von dem unvermeidlichen heimlichen Trinken und Kiffen, habe ich nichts beobachten können, was man als ernsthaft antisoziales Verhalten bezeichnen würde.«
    »Harmlose Jugendliche, die einfach weggesperrt wurden«, sagte ich.
    »So drakonisch war es auch wieder nicht«, meinte sie. »Mehr Zuckerbrot als Peitsche. Eine Art

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