Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
wollen? Ihr werdet sagen, daß wir nicht wissen, was Leben ist, und leben … Aber leben wir wirklich? Leben, ohne zu wissen, was Leben ist, ist das leben?
Der See des Besitzens II
Nichts dringt in etwas anderes ein, weder Atome noch Seelen. Daher ist Besitz unmöglich. Von der Wahrheit bis zum Taschentuch – nichts ist besitzbar. Eigentum ist kein Diebstahl: es ist nichts.
Kaiserliche Legende
Meine Phantasie ist eine Stadt im Orient. Ihre gesamte räumliche Wirklichkeit erfreut die Sinne wie ein kostbarer, weicher Teppich. Die Zelte und Buden, die den Straßen einen bunten Anstrich verleihen, heben sich von einem, ich weiß nicht welchem Hintergrund ab, der nicht der ihre ist, wie gelbe oder rote Stickereien von leuchtend blauem Atlas. Die gesamte Geschichte dieser Stadt umschwirrt das Licht meines Traumes wie eine im Halbdunkel meines Zimmers kaum hörbare Motte. Meine Phantasie lebte einst inmitten von Pracht und empfing aus den Händen von Königinnen Juwelen, denen die Zeit ihren Glanz genommen hatte. Tief innere Trägheit bedeckte die Strände meiner Nicht-Existenz mit Teppichen, und Algen trieben auffällig wie schattiger Atem auf meinen Flüssen. Und so war ich Säulenhallen in vergangenen Zivilisationen, fiebrige Arabesken auf leblosen Friesen, die Schwärze der Ewigkeit im Geflecht zerbrochener Säulen, Masten untergegangener Schiffe, Stufen gestürzter Throne, Schleier, die nichts verhüllten und doch Schatten zu umhüllen schienen, Trugbilder, die aufstiegen wie Rauch aus umgestürzten Räucherfässern. Finster war meine Herrschaft und getrübt von Kriegen an fernen Grenzen der kaiserliche Friede in meinem Palast. Immer nah der unbestimmte Lärm ferner Feste; immer feierliche Umzüge unter meinen Fenstern; doch nicht ein rotgoldener Fisch in meinen Brunnenbecken, nicht ein Apfel im stillen Grün meiner Gärten, und hinter den Bäumen wiegte nicht ein Rauchfaden aus den Kaminen jener armseligen Hütten, in denen andere glücklich sind, mit schlichten Balladen das ängstliche Geheimnis meines Bewußtseins von mir in den Schlaf.
Von der Kunst des rechten Träumens I
Grundvoraussetzung hierfür ist, daß du nichts achtest, an nichts glaubst, nichts […]. Doch bekundest du Mißachtung, halte fest an dem Wunsch nach Achtung; zeigst du Mißfallen gegenüber Ungeliebtem, halte fest an dem schmerzlichen Verlangen nach einem geliebten Wesen; verachtest du das Leben, vergiß nicht, daß es schön sein muß, es leben und lieben zu können. Damit legst du die Fundamente für dein Traumgebäude.
Und merke: Was du anstrebst, ist höher als alles andere. Träumen heißt sich finden. Du wirst der Kolumbus deiner Seele sein. Du wirst ihre Landschaften erkunden. Versichere dich also, daß du den richtigen Kurs eingeschlagen hast und deine Instrumente dich nicht in die Irre führen.
Die Kunst des Träumens ist schwer, denn sie ist eine Kunst der Passivität, in der wir unser Bemühen darauf konzentrieren, uns nicht zu bemühen. Die Kunst des Schlafens, sofern es sie gäbe, wäre gewiß nicht wesentlich anders.
Und wisse: Die Kunst des Träumens ist nicht die Kunst, unseren Träumen eine bestimmte Richtung zu geben; denn Richtung geben hieße handeln. Der wahre Träumer überläßt sich sich selbst, läßt sich von sich selbst in Besitz nehmen.
Meide alle materiellen Anreize. Anfangs wirst du versucht sein zu masturbieren, Alkohol zu trinken, Opium zu rauchen, […]. All dies heißt sich bemühen und suchen. Willst du ein rechter Träumer sein, darfst du nur träumen, und nichts sonst. Opium und Morphium kauft man in Apotheken – wie also willst du durch sie träumen können? Masturbation ist etwas Physisches – wie also willst du […]
Träume meinethalben vom Masturbieren, wenn es denn sein muß. Wenn du aber vom Opiumrauchen träumst oder von Morphium, dann laß dich von der Vorstellung an das Opium, […] an das Morphium deiner Träume berauschen – dafür verdienst du Lob: Denn du spielst die ruhmreiche Rolle des vollkommenen Träumers.
Halte dich stets für trauriger und unglücklicher als du bist. Das schadet nicht. Die Einbildung ist ein wenig wie eine Leiter zum Traum.
Von der Kunst des rechten Träumens II
Schiebe alles auf. Tue niemals heute, was du auf morgen verschieben kannst. Alles Tun ist müßig, heute wie morgen.
Überlege nie, was du tun wirst. Tue es nicht.
Lebe dein Leben. Laß dich nicht von ihm leben. Im Recht oder im Unrecht, im Schmerz oder im Wohlergehen: Sei du
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