Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
hinaus.
»Nun«, begann Melly und setzte sich wieder, »von welcher Schneiderin sollen wir das Kleid machen lassen?«
»Victoria sieht immer sehr gut aus in den Modellen von Madame LeClaire«, schlug Petronilla vor.
»Ich habe nicht von Victorias Kleid gesprochen. Ich meinte mein Kleid!«, erwiderte Melly entrüstet.
»Nun, in diesem Fall schlage ich vor, wir begeben uns in die Bond Street und machen einen kleinen Einkaufsbummel«, meinte Winnie.
Und genau das taten sie dann in bester Laune, wenngleich Winnie auf dem Weg dorthin die ganze Zeit ihr Kruzifix umklammerte.
Die Sonne ging gerade unter, als Victoria nur ein kurzes Stück vom Haus Rudolph Caulfields entfernt - jenes Mannes, dem das Buch des Antwartha gehörte - aus Barths Droschke stieg. Sebastian hatte zwar gesagt, dass die Vampire, die in Liliths Namen agierten, erst bei Nacht eintreffen würden, aber Victoria wollte nicht das Risiko eingehen, dass sie kamen, bevor sie selbst vor Ort war.
Verbena hatte ihr geholfen, sich anzuziehen, allerdings war
Victoria dieses Mal weder als Mann noch als Debütantin gekleidet, sondern trug das Gewand eines Venators, das ihre Zofe eigens für sie entworfen hatte. Es bestand aus einem geschlitzten Rock, der sich auf den ersten Blick nicht von dem irgendeines anderen Tageskleids unterschied, ihr jedoch mehr Bewegungsfreiheit gab. Die Ärmel waren fest an den Schultern des Leibchens angenäht, im Gegensatz zu den hauchdünnen, duftigen Exemplaren, die nur lose am Mieder einer Ballrobe befestigt wurden. Der Stoff war dunkelblau, ohne nennenswerte Ausschmückungen und aus weicher Baumwolle, sodass kein Rascheln von Taft oder Seide zu hören sein würde. Er endete mehrere Zentimeter über dem Boden und war somit ein wenig kürzer, als Victoria das gewöhnt war.
Die ausgefallensten Details des Kleides waren jedoch zwei kleine Laschen an der Taille, durch die Victoria ihre Pflöcke schieben konnte, und zwei tiefe, in den Falten ihres Rocks verborgene Taschen, die für ihr Weihwasserfläschchen, ein Kruzifix und andere Ausrüstungsgegenstände gedacht waren.
Als Victoria ausstieg, ließ sie ihren Umhang zurück. Es war ein milder Sommerabend, und die Aufregung über ihre gefährliche Unternehmung würde sie zusätzlich warm halten. Sie erteilte Barth die nötigen Anweisungen, dann wandte sie sich von der Droschke ab.
Zusammen mit Verbena war sie bereits früher am Tag zu Caulfields Haus, bekannt als das Redfield Manor, gefahren, um seine Lage und Umgebung auszukundschaften und einen guten Platz zu finden, an dem sie warten konnte, ohne bemerkt zu werden.
Ihre Zofe, die nach ihrem feuchtfröhlichen Abend mit den
Vampiren im Silberkelch die Abenteuerlust gepackt hatte, war zum Dienstboteneingang marschiert, um über den Zeitplan und die Haushaltsabläufe in Erfahrung zu bringen, was sie konnte. Victoria wusste nicht genau, wie sie es schaffte, an die Informationen zu kommen, doch sie fand tatsächlich heraus, dass die Dienerschaft an diesem Nachmittag gemeinsam mit Rudolph Caulfield abreisen und der Gentleman, der das Haus in der Zwischenzeit bewohnen sollte, sein eigenes Personal mitbringen würde.
Als Victoria nun hinter das große Eisentor schlüpfte, war sie dankbar, dass Verbena darüber hinaus erfahren hatte, wie selten der Garten benutzt wurde - weshalb er der perfekte Ort war, um sich zu verstecken.
Sie entdeckte unter einem kleinen Baum, der sich geweigert hatte, in diesem Frühling Knospen zu tragen, eine Steinbank, setzte sich darauf und rutschte an den Rand, sodass sie das Haus beobachten konnte. Von diesem Aussichtspunkt aus konnte sie jeden sehen, der sich der Vordertür näherte. Sie nahm an, dass Mr. Caulfield und sein Gefolge im Laufe des Nachmittags abgereist und durch den Hausgast ersetzt worden waren.
Während sie so dasaß und versuchte, eine beharrliche Biene zu ignorieren, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, in der Nähe des toten Baums Nektar zu finden, überkam sie ein Anflug von Schuldbewusstsein. Sie hatte lange und ausgiebig mit sich selbst und mit Verbena darüber debattiert, ob sie Eustacia und Max in ihre Pläne für diesen Abend einweihen sollte, doch am Ende hatte sie sich dagegen entschieden. Sie konnte auf sich selbst aufpassen - Kritanu war ein guter Lehrmeister gewesen. Sie wusste, was sie tat.
Also hatte sie beschlossen, das hier allein zu wagen, und zwar aus mehreren, absolut logischen Gründen.
Erstens: Falls Sebastians Information falsch war, würde sie sich dumm
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