Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
Haus geblieben.
Warum hatte sie die Terrasse verlassen? Was war geschehen?
Hatte jemand sie entführt?
Als der Pfad eine Biegung machte, stieß er beinahe mit einer Gestalt in langen Röcken zusammen. Sie stand taumelnd vornüber gebeugt, hatte die Hände in ihr Kleid gekrampft und schluchzte. Ohne einen Gedanken an Etikette zu verschwenden, fasste er die Frau bei den Schultern. »Victoria?« Er schüttelte sie sanft.
Sie blickte auf. Es war nicht Victoria, sondern Miss Emily Colton, die noch vor wenigen Minuten mit Frederick Truscott auf der Terrasse gestanden hatte. Ihr Gesicht war eine Maske des Entsetzens, und etwas Dunkles, vielleicht ein Kratzer, verunzierte ihren Hals. Sie brabbelte irgendetwas Unverständliches, während sie sich an ihn klammerte, als wäre sie am Ertrinken und nur er könnte sie retten.
Phillip war hin- und hergerissen. Victoria war noch immer da draußen, aber Miss Colton brauchte ihn auch. Und was war bloß mit Truscott passiert?
»Kommen Sie.« Er zog sie hinter sich her in Richtung Haus, während er gleichzeitig um Hilfe rief. Über ihr gedämpftes Schluchzen hinweg lauschte er ängstlich nach einem weiteren Schrei aus der Dunkelheit.
»Haben Sie irgendjemanden sonst gesehen?«, fragte er drängend. »Eine andere Frau? Miss Grantworth vielleicht?«
Sie schien zu nicken, seine Frage zu bejahen, aber wegen ihres Weinens und Zitterns verstand er nicht, was sie sagte. Sobald die Terrasse in Sicht kam, rief er noch einmal nach Hilfe, dann gab er der Frau einen kleinen Stups und machte kehrt, um zurück in die Finsternis zu laufen.
»Victoria!«, rief er. »Victoria!«
Er nahm eine weitere Kurve und wäre beinahe in sie hineingerannt.
»Victoria!« Er schlang die Arme um sie, zog sie an sich und drückte sie an seine Brust, dankbar, dass nicht sie diejenige war, die vor Angst schluchzte. »Was ist geschehen? Ist alles in Ordnung?«
Obwohl sie schwer zu atmen schien, machte sie nicht den Eindruck von jemandem in Bedrängnis. Stattdessen löste sie sich wesentlich leichter aus seiner Umklammerung, als er es ihr zugetraut hätte. Sie sah ihn mit einem Ausdruck der Überraschung in ihrem wunderschönen Gesicht an und noch etwas anderem … großer Intensität. Für einen Moment vergaß er seine Besorgnis und genoss einfach nur die Perfektion ihrer Züge - während er gleichzeitig überlegte, warum ihre Augen so wild funkelten.
»Phillip? Es geht mir gut. Mir fehlt nichts. Was stimmt denn nicht?«
»Ich hörte jemanden schreien und dachte, du wärst es! Du warst nicht auf der Terrasse, als ich zurückkam.« Er bemerkte nun, dass er ihre Stola irgendwo auf dem Weg verloren hatte, und legte ihr den Arm um die Taille. Immerhin hatte sie seinen Antrag angenommen. Auch wenn es noch nicht offiziell war, sie waren jetzt verlobt. Es war also durchaus angemessen.
»Ich habe mein Täschchen von der Terrasse fallen lassen, und als ich nach unten ging, um es zu holen, hörte ich eine Frau reden, sich mit jemandem streiten - es klang, als wäre sie in Gefahr.«
»Also hast du sie gesucht, um ihr zu helfen?« Phillip hätte sie am liebsten geschüttelt, seine zerbrechliche Geliebte. »Du hättest verletzt werden können!«
»Aber das wurde ich nicht. Es war Emily Colton. Sie ist mir vorausgelaufen. Hast du sie gesehen?«
»Ja. Sie war verängstigt, schien aber unversehrt zu sein. Törichtes Mädchen.« Mit dem Arm um ihre Taille drückte er sie eng an sich. Er hätte nichts anderes von einer Frau erwarten sollen, die im Alter von gerade mal zwölf einen jungen Mann, der um die Hälfte größer war als sie, zurechtgestaucht hatte. In Anbetracht ihrer Schönheit und Verwegenheit, ihres Charmes und ihrer Neigung, für sich selbst zu denken statt so, wie die Gesellschaft es ihr diktierte, war es wirklich kein Wunder, dass er sie liebte. »Es war mutig von dir, ihr beistehen zu wollen, aber du hättest dabei selbst zu Schaden kommen können! Du hättest um Hilfe rufen sollen.«
Victoria nickte gegen seine Schulter. Sie erklommen gerade die Stufen zur Terrasse, und Phillip war froh, zu sehen, dass sie noch immer leer war. Miss Colton würde gerade umsorgt werden nach dem ausgestandenen Schrecken, was auch immer seine Ursache gewesen war - vielleicht so etwas Einfaches wie ein Ast, der sich in ihrem Kleid verfangen hatte, oder ein Streit mit Truscott, wo auch immer er abgeblieben sein mochte -, sodass Victoria und er die Veranda für sich allein hatten.
Und da weitermachen konnten, wo sie
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