Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
Schwachen vergreifen wollten.
Doch heute Abend schien die Stadt frei von jeder Gefahr zu sein, egal ob für Mann oder Frau.
Kühn und schnell ging sie in der Mitte der Straße entlang, hielt dabei Ausschau nach irgendeiner Bewegung in der Dunkelheit. Wartete auf das Frösteln in ihrem Nacken.
Nichts.
Nichts, bis sie nach dem dritten Häuserblock um eine Ecke bog und in einer Seitengasse einen huschenden Schatten ausmachte. Ihr Genick wurde kalt.
Die Lippen zu einem hinterhältigen Lächeln verzogen, ging Victoria mit leichtfüßigen Schritten auf den Schemen zu. Verborgen in den Falten ihres Mantels hielt sie den Pflock in der Hand. Sie passierte die Seitengasse mit Bewegungen, die ganz Unschuld und Versuchung verhießen.
Sie erwartete, dass er oder sie auf sie zustürzen und sie angreifen würde, aber nichts geschah. Einen halben Block weiter blieb sie stehen und drehte sich um. Niemand war hinter ihr; die Kälte in ihrem Nacken hatte nachgelassen.
Gerade als sie zu der Gasse zurückgehen wollte, kam eine hohe schwarze Kutsche um die Ecke gebogen. Victoria starrte sie an; es war sehr ungewöhnlich, eine solch elegante Kutsche in diesem Teil der Stadt zu sehen.
Sie kam auf der Straße vor ihr zum Stehen. Ihre zwei schwarzen Pferde stampften mit den Hufen und rollten die Augen - das einzig pure Weiß im Grau der Nacht. Der Kutscher blieb regungslos sitzen und würdigte Victoria keines Blickes.
Dann ging die Tür auf.
»Victoria.«
Es war Sebastian, und er winkte sie zu sich; nur seine Hand war sichtbar, doch sie erkannte die Stimme, die Art, wie er ihren Namen aussprach.
Sie trat an die Kutschentür und spähte ins Innere. Sebastian saß allein darin. Er lehnte sich auf seinem Sitz nach vorn und streckte ihr die Hand entgegen. Bot ihr seine Hilfe beim Einsteigen an.
»Kommen Sie. Sie werden heute Nacht niemanden zum Jagen finden, mein bezaubernder Venator.«
»Und warum nicht?« Sie stand, die Hände in die Hüften gestemmt, direkt vor der Tür und empfand plötzlich unerklärliche Wut.
»Lassen Sie uns eine kleine Spazierfahrt machen. Wir können den Vollmond genießen, während ich es Ihnen erkläre.«
»Ich werde laufen, es sei denn, Sie haben einen Vampir da drinnen, der gewillt ist zu sterben. Trotzdem vielen Dank.« Sie drehte sich um und ging weg.
Er war so schnell, dass sie nicht die Zeit hatte, zu reagieren; in einer kurzen Abfolge von Bewegungen sprang er aus der Kutsche, schlang ihr den Arm um die Taille und riss sie zurück zur Tür. Victoria stolperte über einen Straßenbegrenzungsstein und taumelte auf die Kutsche zu. Sie konnte einen unsanften Sturz nur dadurch verhindern, dass sie sich mit den Händen an der Außenwand abfing.
»Sie sind also in Kampfstimmung«, flüsterte Sebastian ihr ins Ohr, während er seine Hände zu beiden Seiten von ihren legte. »Das erzählt man sich zumindest auf der Straße. Es ist das Thema im Silberkelch.«
Sie drosch mit den Armen um sich, um seine Hände wegzustoßen, dann drehte sie sich zu ihm um. Er stand so nah vor ihr, dass sie jede seiner Wimpern zählen und Nelken in seinem Atem riechen konnte. »Sie sind mir nicht gewachsen«, zischte sie. Sie verstand selbst nicht, woher ihre Rage kam; sie wusste nur, dass sie ein Ventil brauchte.
»Lassen Sie’s drauf ankommen.«
Sie bewegte sich, aber er war schnell. Er packte sie bei den
Handgelenken und zog ihre Arme an den Hüften vorbei nach unten. Victoria setzte sich zur Wehr, aber noch bevor sie sich aus seinem Griff befreien konnte, hatte er schon einen Fuß neben ihren gestellt und versetzte ihr einen seitlichen Stoß. Sie verlor das Gleichgewicht, er riss sie nach oben und schubste sie in die Kutsche.
Noch bevor sie sich auf die Füße rappeln konnte, war Sebastian schon drinnen und verriegelte die Tür. Er klopfte mit einem langen Spazierstock gegen die Decke, und der Kutscher fuhr los, als Victoria gerade vom Boden aufsprang.
»Setzen Sie sich, meine Liebe.« Er sah zu ihr hoch, wie sie da über ihm stand, als habe sie gerade um Tee gebeten. »Wenn Sie kämpfen möchten, werde ich kämpfen. Sie scheinen eine Art von Erlösung dringend nötig zu haben. Oder Sie können einfach dort drüben Platz nehmen.«
Victoria setzte sich. Sie atmete schwer, ein wenig erschüttert darüber, wie leicht er sie besiegt hatte. Nun ja, nicht wirklich besiegt - er hatte sie überrumpelt, aber deshalb war sie nicht eingeschüchtert. Nicht ansatzweise.
»Was wollen Sie?«
»Das, meine Liebe, ist eine
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