Das Buch der Vampire 01 - Bleicher Morgen
Winnie zum Tee eingeladen; sie und Petronilla hatten gehofft, dass du mitkommen würdest, damit wir den Sitzplan für deine Hochzeit besprechen können.
Ich habe Rockley übrigens schon seit Tagen nicht mehr gesehen, Victoria. Ist er krank?«
Offensichtlich bemerkte ihre Mutter weder die roten Ränder um die Augen ihrer Tochter noch die dunklen Schatten darunter. »Nicht, dass ich wüsste. Er war in letzter Zeit sehr beschäftigt. Und leider habe ich Tante Eustacia versprochen, sie heute zu besuchen. Ich war schon fast eine Woche nicht mehr bei ihr.«
Sie musste es ihrer Mutter sagen. Unbedingt.
Mit jedem Tag, an dem sie es nicht tat, riskierte sie, dass es in der Zeitung stand, bevor Lady Melly davon wusste. Es war nicht fair ihrer Mutter gegenüber, sie ins offene Messer laufen zu lassen. Die Gesellschaftsdamen würden auf ihre Kosten einen Freudentag feiern, wenn das geschah.
»Mutter, ich muss dir etwas sagen. Rockley und ich hatten eine Auseinandersetzung. Wir...« Ihre Stimme verebbte, als sie den bekümmerten Ausdruck auf Mellys Gesicht sah.
»Nun, ganz bestimmt kannst du die Sache wieder einrenken, Victoria! Du darfst dir nicht wegen einer kleinen Auseinandersetzung deine Zukunft ruinieren lassen!«
Eine kleine Auseinandersetzung.
»Ich wollte dich nur vorwarnen, für den Fall, dass du irgendwelche Gerüchte hörst«, erwiderte sie lahm. Mist. Sie konnte mit einer Hand drei Vampire erledigen; warum schaffte sie es nicht, ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen?
»Also, ich erwarte von dir, dass du beim Ball der Mullingtons nächste Woche mit ihm sprichst und die Dinge in Ordnung bringst! Keine Ausflüchte, Victoria. Es ist der fünfzigste Geburtstag des Herzogs. Alle werden dort sein. Du eingeschlossen.«
Victoria nickte. Sie hatte keine Wahl, und Phillip würde vermutlich sowieso nicht dort erscheinen. Er hasste solche Veranstaltungen. Und falls es auch nur das kleinste Gerücht gäbe, dass er wieder frei war, würde er umringt sein, noch bevor er drei Schritte in den Ballsaal gemacht hätte.
»Ich sehe dich dann heute Abend. Wir fahren um sieben Uhr dreißig los. Halte dich bereit. Und unternimm etwas gegen diese dunklen Ringe unter deinen Augen, Victoria. Du siehst schrecklich erschöpft aus.«
Doch am Ende ging Victoria nicht zu Tante Eustacia. Sie schickte ihr, nachdem ihre Mutter fort war, eine Nachricht, dass sie den Tag darauf verwenden musste, Besuche zu absolvieren.
Dann verbrachte sie den restlichen Nachmittag in ihrem Zimmer.
An diesem Abend blieb ihr keine andere Wahl, als mit Lady Melly einem Hauskonzert beizuwohnen. Das einzig Tröstliche war, dass es ein kurzer Abend werden würde, sodass sie sich später aus dem Haus schleichen und sich dem widmen konnte, was sie insgeheim als ›Vampirhatz‹ bezeichnete.
Das Konzert war genauso ereignislos wie das bei den Straithwaites; vielleicht sogar noch ein bisschen langweiliger, denn dieses Mal ließ Rockley sich nicht blicken.
Und leider auch kein Vampir.
Sobald in Grantworth House kurz nach Mitternacht Ruhe eingekehrt war, stahl Victoria sich durch die Hintertür hinaus.
Barth, ihr vertrauenswürdiger Kutscher, wartete gleich um die Ecke, und wie es ihre Gewohnheit geworden war, nickte er nur kurz, als sie in die Droschke stieg. Er wusste inzwischen, was von
ihm erwartet wurde, und brachte sie in die gefährlichsten Viertel der Stadt. Es war jede Nacht ein anderes; Victoria war es gleich. Sie verließ sich darauf, dass Barth die besten Plätze kannte und sie dorthin fahren würde.
Die Kopfsteinpflasterstraßen waren feucht von einem leichten Sommerregen und schimmerten im Mondschein wie graue Zähne. Victoria stieg aus und wies Barth an, sie in zwei Stunden abzuholen.
Als die Droschke davonholperte, trat sie in die Mitte der Straße, blieb stehen und sah sich um. Forderte die Gefahr heraus.
Alles war still. Grau, schwarz und still.
Sie mochte diesen Stadtteil - wo auch immer er lag; es war ihr egal, sie wollte es gar nicht wissen -, denn die Straßenlaternen waren entweder heruntergebrannt oder gar nicht erst angezündet worden. Es war das perfekte Revier für Vampire oder andere Bösewichter, die eine Lektion nötig hatten. Victoria war da nicht wählerisch.
Nach der ersten Nacht, in der sie, als Mann verkleidet, allein auf Streifzug gegangen war, hatte sie beschlossen, von nun an ihren geschlitzten Rock auf ihren Patrouillengängen zu tragen. Als Frau gekleidet, erregte sie mehr Aufmerksamkeit bei all jenen, die sich an den
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