Das Buch der Vampire 03 - Blutrote Dämmerung
einhundertvierzig Jahren unbehelligt und ungeöffnet geblieben. Doch jetzt, mit all den Aktivitäten der Untoten in dieser Gegend - in Zusammenhang mit dem Tod deiner Tante und der Möglichkeit, dass ihr Schlüssel in die falschen Hände gelangt ist -, müssen wir die Tür unbedingt genau im Auge behalten. Tatsächlich besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ihr der Schlüssel irgendwie abgenommen wurde nach den Ereignissen des letzten Herbstes … und man ihn bereits benutzt hat.« Wayrens faltenfreies, altersloses Gesicht schimmerte wie ein bleicher, ernsthafter Mond. »Allein die Tatsache, dass die Untoten so an dem interessiert sind, was hinter der Tür versteckt ist, gibt uns schon Grund genug zur Sorge.«
»Ein Grund mehr, nach der Tür zu sehen, um festzustellen, ob einer der Schlüssel benutzt wurde«, murmelte Ilias.
»Ja. Ylito wird euch begleiten wollen«, ergänzte Wayren zu Victorias Überraschung. »Vielleicht gelingt es euch, herauszufinden, was sich so Wichtiges hinter dieser Tür verbirgt, oder zumindest, ob wirklich jemand versucht hat, in das Labor einzudringen.«
Später an diesem Nachmittag brachte Oliver, Victorias Fahrer und die Geißel ihrer Zofe Verbena, den kleinen Landauer vor der Villa Gardella zum Stehen. Als Victoria ausstieg, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass sie, seit sie am Morgen des Vortags zu der Porträtenthüllung im Konsilium aufgebrochen war, weder zu Hause gewesen war noch geschlafen hatte. Sie war müde bis auf die Knochen und gleichzeitig so energiegeladen
wie schon seit Monaten nicht mehr. Ihre Gedanken flogen in eine Milliarde Richtungen davon, sodass sie das Gefühl hatte, kaum mit ihnen Schritt halten zu können. Und dann war sie von dem Transport kopfloser Leichen, den sie letzte Nacht mit Michalas durchgeführt hatte, noch immer schmutzig und au ßer Façon.
Aber sie hatte nun wieder eine Aufgabe, und zum ersten Mal seit Eustacias Tod fühlte sie sich in Höchstform.
Trotzdem wollte sie im Moment nichts mehr, als sich in die Stille ihres Zimmers zurückzuziehen und ein paar der Meditations- und Atemübungen zu praktizieren, die Kritanu sie gelehrt hatte. Morgen würde sie den geheimnisvollen Ylito kennen lernen und gemeinsam mit ihm la Porta Alchemica in Augenschein nehmen.
Sie erreichte die Haustür, als sie auch schon von Eustacias italienischem Butler geöffnet wurde, der etwas gehetzter wirkte als sonst.
» Grazie , Giorgio.« Victoria trat ein und ging unverzüglich auf die Treppe zu, während sie ihre Handschuhe auszog und die Haken ihres Capes öffnete. »Bitte läute nach Verbena, und bitte sie, zu mir nach oben zu kommen.«
» Si , Mylady«, erwiderte Giorgio. »Aber vielleicht möchten Sie sich zuvor einen Moment Zeit nehmen und sich in den Salon begeben?«
»In den Salon?« Victoria blieb widerwillig mit der Hand auf dem Treppenpfosten stehen - nur ein Stockwerk trennte sie von dem Paradies, nach dem sie sich sehnte. Sie schaute in Richtung Salontür und stellte fest, dass sie geschlossen war.
Doch noch bevor Giorgio etwas erwidern konnte, flog die
Tür auch schon auf. »Victoria!«, erscholl eine vertraute, schrille Stimme. »Victoria, wir sind da!«
Victoria war unfähig, sich zu rühren. Ihre Finger erstarrten auf dem Treppenpfosten, während sie ihre Mutter, Lady Melisande Gardella Grantworth, angaffte, die in einer Wolke bauschiger Röcke, Rüschen und Spitze aus dem Salon geschwebt kam.
»Wir?«, ächzte sie, während sich jede Hoffnung auf einen ruhigen Abend in der friedlichen Stille ihres Hauses in Wohlgefallen auflöste. Kein Wunder, dass Giorgio so erschöpft gewirkt hatte.
»Aber ja! Wir sind alle gekommen - Nilly, Winnie und ich. Gerade noch rechtzeitig zur Karnevalswoche. Und natürlich zu deiner Unterstützung, mein armer Liebling. Es tut mir ja so leid, dass du das alles allein bewältigen musstest. Ach, wäre ich doch nur schon früher gekommen.« Lady Melly schloss ihre Tochter in eine mütterliche Umarmung, während diese weiterhin verzweifelt den Treppenpfosten umklammerte.
Dann kamen Mellys beide Busenfreundinnen hinter ihr ins Foyer gesegelt, um Victoria mit ausgestreckten Armen zu begrüßen, bevor sie anschließend mit ihren schrillen Stimmen dieses und jenes kommentierten: angefangen bei Victorias schlichter Frisur und ihren eingefallenen Wangen bis hin zum milden italienischen Klima, und wie warm es doch für Februar sei, wieso also ihre Hände so kalt wären und ihr Kleid - war das denn überhaupt ein Kleid?
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