Das Buch der Vampire 03 - Blutrote Dämmerung
Schlimmeres vorstellen. Viel Schlimmeres.
Victorias Treffen mit Ylito wurde auf einen regnerischen Vormittag zwei Tage nach der Ankunft ihrer Mutter und deren Freundinnen verschoben. Trotzdem war es reines Glück, dass es ihr tatsächlich gelang, unbemerkt aus der Villa zu schlüpfen. Melly hatte für diesen Tag eigentlich einen gemeinsamen Besuch des Kolosseums geplant, dann jedoch einen Migräneanfall bekommen. Victoria hatte rasch ein ähnliches Leiden ersonnen und sich in ihr Zimmer zurückgezogen, wo sie Verbena instruiert hatte, bis zum nächsten Morgen niemanden hereinzulassen.
»Heute ist der erste Tag, an dem sie mich nicht zu einem Einkaufsbummel, einer Stadtbesichtigung oder einem Teekränzchen nötigt«, stöhnte Victoria, während sie sich durch den Dienstbotentrakt zum Hinterausgang schlich. »Hoffentlich halten
die Kopfschmerzen den ganzen Nachmittag über an, damit sie auch noch das Abendessen versäumt.«
»Na, na, Mylady, solche Sachen sollten Sie Ihrer Mutter aber lieber nicht wünschen«, warnte Verbena. »Sie kann ja auch nichts dafür, dass sie Sie gern in hübschen Kleidern sehen möchte, um Sie herzuzeigen.«
»Um mich zu verheiraten , meinst du wohl«, murmelte Victoria, um ihr schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen. Mit der Hand an der Hintertür hielt sie inne. »Außerdem ist es schon recht erstaunlich, dass jemand wie sie, der so viel Wert auf Schicklichkeit legt, nicht auf Trauerkleidung besteht, obwohl Tante Eustacia gerade mal drei Monate tot ist.«
»Das mag sein, wie es ist, Mylady, aber so nah Sie beide sich auch gestanden haben mögen, am Ende war sie doch nur Ihre Großtante. Da wird keine lange Trauerzeit erwartet, nicht mal in London, aber Sie sind jetzt auch noch in Rom. Und wenn Lady Melly Trauer tragen würde, könnte sie diese Woche nicht zum Karneval gehen.« Verbena blickte auf, und Victoria sah das Mitgefühl in ihren Augen. »Sie sind immer noch so jung und hübsch, Mylady. Ihre Mama will doch nur, dass Sie glücklich sind. Sie will diese Traurigkeit aus Ihren Augen vertreiben.«
Glücklich. Victoria wusste nicht, ob das überhaupt möglich war.
Aber wenn schon nicht glücklich, dann vielleicht wenigstens zufrieden. Oder erleichtert, dass ihre Rolle für die Welt bedeutsamer war, als nur die unwichtigere Hälfte einer Ehegemeinschaft zu sein, ein Schoß, der einen Erben hervorzubringen hatte oder eine Anziehpuppe, mit der ihre Mutter angeben konnte.
Victoria hatte eine wichtigere Aufgabe, als die meisten Frauen oder Männer sich auch nur vorzustellen vermochten. Wenn es ihr nur gelang, zu derselben Zufriedenheit, derselben inneren Ruhe zu finden, wie ihre Tante sie als Illa Gardella besessen hatte, so wollte sie sich gar nicht mehr wünschen für ihr Leben.
Da ihre Mutter sie wieder aufgehalten hatte, verspätete Victoria sich bei ihrem Treffen mit Ylito an der Villa Palombara. Trotz der feuchten Kälte, die Anfang Februar herrschte, ließ Victoria Oliver einen weiten Umweg durch die Stadt fahren, um sicherzugehen, dass niemand ihnen von der Villa Gardella aus folgte. Nachdem er den Landauer vor der brüchigen Mauer angehalten hatte, die von einer alten Eiche durchwachsen und zerstört worden war, drehte er sich zu ihr um.
»Das hier soll der Treffpunkt sein?« Oliver sah Victoria fragend an. Nicht nur waren seine Fahrkünste besser als die seines Kollegen Barth zu Hause in London, seine Sorge um ihre Sicherheit schien ebenfalls größer zu sein. Im Gegensatz zu Verbenas Vetter scheute er durchaus davor zurück, eine Frau allein auf der Straße zurückzulassen, vor allem in einer Gegend, die man fraglos als gefährlich bezeichnen musste.
Aber natürlich hatte er, wiederum im Gegensatz zu Barth, auch nie beobachtet, wie Victoria gegen einen Vampir kämpfte.
»Ja, du kannst mich hier absetzen und nach Hause zurückfahren.«
Sie hatte nie zuvor einen Menschen mit solch dunkler Haut gesehen wie Ylito. Selbst Kritanus, dessen mahagonifarbener Teint und glattes, schwarzes Haar seine indische Abstammung verrieten, war heller als die des Hermetikers.
»Sie sind also die neue Illa Gardella.« Er betrachtete sie nachdenklich. Seine tiefe, geschmeidige Stimme überraschte Victoria, denn insgeheim hatte sie erwartet, dass sie ebenso exotisch klingen würde, wie er mit seiner dunklen Haut und den wirren, fingerlangen Locken, die nach allen Richtungen von seinem Kopf abstanden, aussah. Wayren hatte ihr erzählt, dass Ylitos Familie ursprünglich aus Ägypten
Weitere Kostenlose Bücher