Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
Brötchen mit Mohn zierten neben Haselnussküchlein eine kleine, exquisite Kuchenplatte. Doch trotz ihrer Vorliebe für Zitronen und Haselnüsse reizte der Kuchen Victoria nicht zuzugreifen.
Gwendolyn, eine der jungen Damen, mit denen Victoria seit der Saison befreundet war, in der sie Phillip kennen gelernt und geheiratet hatte, saß ihr in einem großen Sessel gegenüber. Ihr fröhliches grünes Tageskleid mit den kornblumenblauen Schleifen ließ sie im Gegensatz zu der R eife und Erschöpfung, die Victoria ausstrahlte, jung und frisch aussehen. Gwens hellblonde Haare waren am Hinterkopf hochgesteckt, und nur zwei Korkenzieherlocken umrahmten ihr Gesicht von beiden Seiten.
Victoria hatte sich nie Gedanken über Korkenzieherlocken gemacht, denn ihr eigenes, volles Haar lockte sich von Natur aus. Trotzdem wusste sie, dass ihre Frisur nicht annähernd so elegant war wie die ihrer Freundin. Vor langer Zeit war das Frisieren für sie eine Aufgabe gewesen, der sie sich mit großer Hingabe und Sorgfalt hingegeben hatte. Doch jetzt erlaubte sie ihrer Zofe kaum, ihr das Haar zu einem Chignon hochzustecken.
»Es tut mir wirklich leid, Gwen«, sagte sie. »Aber ich muss gestehen, dass ich ein bisschen müde bin und mich immer noch von den Kopfschmerzen erholen muss, die mich gestern Abend davon abgehalten haben, zur Soirée der Bridgertons zu kommen.« Ganz zu schweigen von der Kraft, die es kostete, eine Leiche nach Hause zu schaffen. Allerdings hatte sie schlecht mit der Leiche von Briyani auf der Schulter zur Haustür von St. Heath’s R ow hereinspazieren können. Mit Sebastians Hilfe war es ihr gelungen, die Leiche unbemerkt in die kleine Kapelle des Anwesens zu bringen. Heute Morgen hatte sie dann Kritanu, der im Stadthaus lebte, welches Tante Eustacia Victoria vermacht hatte, eine Nachricht zukommen lassen. Sie wusste zwar nicht, wann sich für sie eine Gelegenheit ergeben würde, mit Kritanu zu sprechen, aber zumindest konnte er bei seinem Neffen sein.
Die einzige Sache, die ihr gestern Abend keine Schwierigkeiten gemacht hatte, war der Abschied von Sebastian gewesen. Sie hatte eigentlich erwartet, dass er ihr auseinandersetzen würde, warum – und wie – sie ihm dafür danken sollte, dass er den Ring gefunden hatte.
Doch er war wohl nach wie vor wütend über ihre scharfen Bemerkungen gewesen, als sie Briyani gefunden hatte, denn er hatte nicht versucht, ihr einen Kuss zu stehlen, ehe er ging. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er es das letzte Mal unterlassen hatte, sie zu intimen Handlungen zu verführen oder zu überreden. Sogar am selben Abend, etwas früher, hatte er einen Versuch unternommen.
»Wir haben dich vermisst, und natürlich wollte jeder von jedem wissen, ob er dir schon einen Besuch abgestattet oder dich gesehen hat.«
Victoria schob alle Gedanken an Sebastian beiseite und lächelte. »Ich hoffe, du hast allen eine schöne Geschichte erzählt.«
Gwen erwiderte das Lächeln, und es erschienen tiefe, ganz reizende Grübchen in ihren Wangen. Sie wirkte auch ein bisschen müde, aber vielleicht lag es auch nur an der nervösen Anspannung wegen der bevorstehenden Hochzeit. »Natürlich – ich habe ihnen erzählt, dass du bis zu meiner Hochzeit zurückgezogen leben willst. Jetzt werden alle noch viel interessierter sein, daran teilzunehmen.«
»Als wäre es für den gesamten ton und den halben Königshof nicht schon Anreiz genug zu kommen, wenn du den Earl von Brodebaugh heiratest. Er hat einen fantastischen Stil und verfügt über ganz viel Eleganz … seine Familie gibt bestimmt viel für diese Hochzeit aus.«
Victoria mochte zwar fast ein Jahr lang in Italien gewesen sein, aber ihre Mutter hatte dafür gesorgt, dass sie in Bezug auf Klatsch immer auf dem neuesten Stand gewesen war. Und wo der Prinzregent jetzt innerhalb der nächsten paar Wochen zu George IV. gekrönt werden würde, gab es noch mehr, worüber geredet werden konnte – wie zum Beispiel über seine Frau, Königin Caroline, die erst vor kurzem aus dem selbstauferlegten jahrelangen Exil in Italien zurückgekehrt war. Trotz des Skandals, der sie umwehte, weil sie sich auf eine Affäre mit ihrem italienischen Diener Bartolomo Pergami eingelassen hatte, war die Königin von der breiten Bevölkerung mit großer Begeisterung in England willkommen geheißen worden – und das nur, weil George unbeliebt war und sie hasste.
Pflichtbewusst verdrängte Victoria ihren Kummer, ihre Erschöpfung und ihren heftigen Widerwillen
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