Das Buch der Vampire 04 - Brennendes Zwielicht
würde das seine Feindseligkeit dir gegenüber erklären. Dem Venator gegenüber, der seinem Bruder das Leben nahm.«
Ihr gefiel es nicht, welche Richtung diese Unterhaltung nahm, denn Max’ Missbilligung lastete immer noch schwer auf ihr. Vielleicht hätte sie Goodwin tatsächlich nicht bei den Vampiren lassen sollen. Aber in dem Moment war es das Einzige gewesen, was sie tun konnte … tun wollte.
Als hätten sich alle moralisch-ethischen Vorstellungen in Luft aufgelöst, sodass nur noch ihr Selbsterhaltungstrieb übrig geblieben war. Das verzweifelte Verlangen weiterzuleben. Und blinde, rasende Wut. Gewissenlose Raserei.
Dann erinnerte sie sich wieder. »Er hat irgendetwas gesagt … von wegen, dass er seinen Bruder geschützt hätte. ›Nach allem, was ich getan hatte, um ihn zu beschützen.‹«
»Er könnte ihm dabei geholfen haben, ein Untoter zu werden, um ihn zu beschützen. So etwas kommt vor.« Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit.
Victoria warf ihm einen forschenden Blick zu und erkannte, dass er von sich selbst sprach. »Wie du es mit deinem Vater und deiner Schwester getan hast.«
»Vioget hat dich ja bestimmt in all die schmutzigen Einzelheiten eingeweiht, nicht wahr?« Max’ Stimme klang rau und abgehackt, dann wandte er sich ab und hob die ineinander verhakten Schwerter auf.
»Von Wayren weiß ich genug, um zu verstehen, dass du jung warst und dazu gebracht wurdest, an die Versprechungen der Tutela zu glauben. Du hast es getan, um das Leben deines Vaters zu retten – und das deiner Schwester. Sie waren beide krank und schwach.«
»Unsterblichkeit. Schutz vor Krankheit. Kraft.« Er richtete sich mit den Waffen in der Hand auf. »Nur ein törichtes Kind könnte glauben, dass es das umsonst gibt.« Max drehte sich um und ging zu dem Schrank, in dem die Waffen verwahrt wurden.
Victoria stellte fest, dass Kritanu das Zimmer verlassen hatte und sie allein waren. »Ich denke nicht, dass die Tutela nur törichte Kinder in ihren Bann zieht. Auch reife, erfahrene Menschen wie John Polidori sind den Machenschaften zum Opfer gefallen.«
»Keine Angst, Victoria. Ich habe mich mit dem abgefunden, was ich getan habe. Was meinst du wohl, warum ich mich der Jagd auf Untote verschrieben habe? Ich sehe keine Veranlassung, mich in Selbstmitleid zu wälzen oder mich zu geißeln. Dafür gibt es viel zu viel zu tun.« Max hob die Schwerter auf ihre Halter im Schrank. Er sah Victoria nicht an, während er sie befestigte. »Und ganz gewiss brauche ich kein Mitgefühl oder Mitleid von dir.«
Victoria öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Max hatte bereits den Raum verlassen.
Kapitel 15
In dem Victoria jemandes Vertrauen enttäuscht
W ir sind gestern vorbeigekommen«, schniefte Lady Melly, »nachdem wir von dem schrecklichen Feuer gehört hatten. Aber diese Verbena beharrte darauf, dass du indisponiert wärest.« Sie sah Victoria finster an. »Eine geschlagene Stunde lang ließ sie uns hier in diesem Zimmer warten. Ohne uns Tee anzubieten.«
Victoria hielt es für wahrscheinlicher, dass Lady Melly und ihre beiden Busenfreundinnen sich eine Stunde lang geweigert hatten, sich von der Stelle zu rühren, als dass man sie gezwungen hätte, im Salon sitzen zu bleiben … aber Verbena verfügte über einen nicht minder starken Willen. Vielleicht war es das Spiel gewesen, wer zuerst blinzeln musste.
Offensichtlich hatten die Damen geblinzelt – oder vielleicht hatte der Hunger sie auch aufgeben lassen.
»Ich sah mich gestern völlig außerstande, Gäste zu empfangen, Mama«, erklärte sie und klopfte ihr beschwichtigend auf die Hand. In Wirklichkeit hatte Victoria leichte Schuldgefühle wegen der Sorgen, die ihre Mutter sich gemacht hatte – denn die Falten in ihrem Gesicht wirkten ausgeprägter; und auch, wie sie beim Anblick der Kratzer und Schürfwunden auf Wangen und Kinn aufgekeucht hatte, zeugte von ihrer Besorgnis. »Aber Verbena erzählte mir, dass du hierhergekommen warst, um nach mir zu sehen, und da fühlte ich mich gleich besser.«
»Du siehst ziemlich mitgenommen aus«, meinte Lady Melly, wobei ihre Miene und ihre Stimme ganz sanft wurden. »Feuer sind etwas ganz Schreckliches.«
Victoria nickte und drückte ihrer Mutter die Hand. Lady Mellys Vater war, als sie noch ein kleines Kind war, bei einem Stallbrand gestorben, und sie beschrieb häufig das tosende Feuer und die Schreie der Pferde, die im Gebäude gefangen gewesen waren. »Aber ich habe es mit nur ein paar Kratzern überlebt, und
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