Das Buch der verlorenen Dinge
sich auf die Hinterbeine. Jetzt war er außer Reichweite der Trolle, und triumphierend warf er den Kopf in den Nacken und heulte. Da senkte sich von oben ein Schatten auf ihn herab.
Die Harpye war größer, stärker und älter als alle anderen, die David bisher gesehen hatte. Sie traf mit solcher Wucht auf den Loup, dass er über die Halteseile in die Tiefe gestürzt wäre, hätten sich ihre Klauen nicht so tief in sein Fleisch gebohrt. Verzweifelt schlug und schnappte der Loup um sich, doch der Kampf war bereits verloren. Unter Davids entsetztem Blick stieß eine zweite Harpye vom Himmel und grub ihre Klauen in den Hals des Loups. Die beiden Riesenvögel zerrten unter wildem Flügelschlagen in entgegengesetzte Richtungen, bis der Loup in zwei Stücke gerissen wurde.
Der Förster versuchte noch immer, die Wölfe zurückzudrängen, doch er kämpfte auf verlorenem Posten. David sah, wie er wieder und wieder auf die rasende Meute aus Fell und Reißzähnen eintrieb, doch schließlich ging er zu Boden, und sie stürzten sich auf ihn.
»Nein!«, schrie David, doch trotz seines Zorns und seiner Trauer musste er weiterlaufen, denn er sah, wie zwei Loups über den Förster hinwegsprangen und zusammen mit zwei Wölfen auf die Brücke liefen. Er hörte das Getrappel ihrer Pfoten auf den Planken, und das Gewicht ihrer Körper brachte die Brücke noch heftiger ins Schwanken. Keuchend erreichte David die andere Seite der Schlucht, zog sein Schwert und wendete sich den entgegenkommenden Raubtieren zu. Sie hatten bereits mehr als die Hälfte des Weges geschafft und kamen immer näher. Die vier Halteseile der Brücke waren an zwei dicken Pfosten befestigt, die tief in den Felsen getrieben waren. David holte aus und hieb auf das erste Seil ein, kappte es jedoch nur zur Hälfte. Er schlug ein zweites Mal zu, das Seil schoss davon, und die ganze Brücke kippte so plötzlich nach rechts, dass die beiden Wölfe in die Schlucht stürzten. David hörte, wie die Harpyen Freudenschreie ausstießen, und das Schwirren ihrer Flügel wurde lauter.
Die beiden Loups hatten es irgendwie geschafft, sich an dem linken Halteseil festzuklammern. Sie stellten sich auf die Hinterbeine, hielten sich am Seil fest und bewegten sich weiter auf David zu. Als er mit dem Schwert auf das zweite Seil einhieb, hörte er, wie die Loups ein alarmiertes Bellen ausstießen. Die Brücke erbebte, und ein Teil der Stränge begann zu reißen. David legte die Klinge auf das Seil, sah noch einmal hinüber zu den Loups, hob dann die Arme und schlug mit aller Kraft zu. Das Seil riss, und nun hatten die Loups nichts mehr, woran sie sich festhalten konnten, nur noch die Planken unter ihren Füßen. Unter lautem Jaulen stürzten sie in die Tiefe.
David blickte zur anderen Seite der Schlucht. Der Förster war verschwunden. Eine Blutspur auf dem Boden verriet, dass die Wölfe ihn in den Wald gezerrt hatten. Nur ihr Anführer, der Dandy Leroi, war noch da. In seiner roten Hose und dem weißen Hemd stand er am Waldrand und starrte mit unverhohlenem Hass zu David hinüber. Er hob den Kopf und heulte um die verlorenen Mitglieder seines Rudels, aber er blieb, wo er war, und löste den Blick nicht von David, bis der Junge sich schließlich umwandte und voller Trauer um den Förster, der ihm das Leben gerettet hatte, über einen kleinen Hügel verschwand.
13
Von Zwergen und ihrem
bisweilen jähzornigen Wesen
David kam zu einer leicht erhöht liegenden weißen Straße aus Kies und Steinen. Sie verlief nicht gerade, sondern wand sich um die Hindernisse, die ihr begegneten: mal ein kleiner Bach, mal eine Ansammlung von Felsen. Zu beiden Seiten befand sich ein Graben, und dahinter erstreckte sich ein Streifen aus Gras und Unkraut bis zum Waldrand. Die Bäume waren hier kleiner und weniger dicht als im Wald des Försters, und dahinter konnte er eine flache, felsige Hügelkette erkennen. Auf einmal überkam ihn große Müdigkeit. Nun, da die Flucht vorbei war, verlor er jegliche Energie. Am liebsten hätte er sich einfach hingelegt und geschlafen, aber hier draußen war das viel zu gefährlich, und er wollte auch nicht zu nah bei der Schlucht bleiben. Er brauchte einen Unterschlupf. Die Wölfe würden ihm nicht verzeihen, was bei der Brücke geschehen war. Sie würden eine andere Möglichkeit finden, auf diese Seite zu gelangen, und dann würden sie sich wieder auf seine Fährte setzen. Instinktiv blickte er zum Himmel, doch er konnte keine Vögel sehen, die ihm in der Luft
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