Das Buch der verlorenen Dinge
mit Mauscheleien meinte, kam dann aber zu dem Schluss, dass es besser war, nicht darüber nachzudenken. »Äh, sie heißt nicht zufällig Schneewittchen?«
Genosse Bruder Nummer Eins blieb abrupt stehen, was zu einer nicht unerheblichen Karambolage von Genossen hinter ihm führte.
»Du bist doch nicht mit ihr befreundet, oder?«, fragte er misstrauisch.
»Nein, nein, absolut nicht«, sagte David. »Ich bin der Dame nie begegnet. Ich habe nur von ihr gehört, weiter nichts.«
»Ach so«, sagte der Zwerg, offenbar beruhigt, und setzte sich wieder in Bewegung. »Jeder hat von ihr gehört. Schneewittchen? Das ist doch die, die bei den Zwergen lebt und ihnen die Haare vom Kopf frisst. Die Jungs haben es nicht mal geschafft, sie umzubringen. Oh ja, Schneewittchen kennt jeder.«
»Ihr wolltet sie umbringen?«, fragte David.
»Mit einem vergifteten Apfel«, sagte der Zwerg. »Hat aber nicht geklappt. Wir haben uns mit der Dosis verschätzt.«
»Aber ich dachte, das wäre die böse Stiefmutter gewesen«, sagte David.
»Liest du keine Zeitung?«, fragte der Zwerg. »Die böse Stiefmutter hatte doch ein Alibi.«
»Wir hätten das wirklich vorher überprüfen sollen«, sagte Bruder Nummer Fünf. »Anscheinend hat sie zu dem Zeitpunkt gerade jemand anders vergiftet. Pech für uns, aber wer hätte das ahnen können?«
Nun blieb David stehen. »Wollt ihr damit sagen, ihr habt allen Ernstes versucht, Schneewittchen zu vergiften?«
»Wir wollten bloß, dass sie für eine Weile einschläft«, sagte Bruder Nummer Zwei.
»Für eine sehr lange Weile«, sagte Nummer Drei.
»Aber warum?«, fragte David.
»Das wirst du schon sehen«, sagte Bruder Nummer Eins. »Jedenfalls haben wir ihr den Apfel gegeben, mampf-mampf, schnarch-schnarch, schluchz-schluchz, ›armes Schneewittchen, wir werden sie schrecklich vermissen, aber das Leben geht weiter.‹ Wir bahren sie auf, schmücken sie mit Blumen und kleinen Weinehäschen, das volle Programm, und dann taucht plötzlich so ein blöder Prinz auf und küsst sie. Dabei haben wir hier nicht mal einen Prinzen. Der Kerl ist einfach auf seinem dämlichen Schimmel angeritten gekommen, weiß der Himmel woher. Und bevor wir überhaupt wussten, was los war, ist er schon aus dem Sattel gesprungen und hat sich auf Schneewittchen gestürzt wie ein Windhund auf ein Karnickel. Keine Ahnung, was den gepackt hat, einfach so eine völlig fremde Frau abzuküssen, noch dazu wo sie schlief.«
»Ein Perverser«, sagte Bruder Nummer Drei. »Der gehört eingesperrt.«
»Wie auch immer, der Kerl kommt also auf diesem Schimmel angaloppiert, aufgeputzt wie ein parfümierter Teewärmer, und mischt sich in Sachen ein, die ihn überhaupt nichts angehen. Kaum hat er sie abgeknutscht, ist sie nämlich aufgewacht, und ich sag dir, da war vielleicht was los! Erst hat sie dem Prinzen eine gelangt, weil er sich Freiheiten herausgenommen‹ hatte, und dann gab’s eine Gardinenpredigt, dass er nicht mehr wusste, wo vorne und hinten war. Anstatt ihr einen Heiratsantrag zu machen, hat der Prinz sich natürlich postwendend wieder auf sein Pferd geschwungen und sich aus dem Staub gemacht. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Die Sache mit dem Apfel wollten wir der bösen Stiefmutter vom Dienst anhängen, aber dummerweise haben wir uns vorher nicht vergewissert, ob sie zu der Zeit nicht ganz woanders war. Es kam zum Prozess, und der Richter hat uns aufgrund mildernder Umstände und mangelnder Beweise auf Bewährung freigelassen, aber eins ist klar: Falls Schneewittchen noch einmal etwas zustoßen sollte, und sei es nur ein abgebrochener Fingernagel, sind wir dran.«
Genosse Bruder Nummer Eins packte sich an den Hals, als läge eine Schlinge darum, nur für den Fall, dass David nicht wusste, was »dran sein« bedeutete.
»Oh«, sagte David. »Aber das ist nicht die Geschichte, die ich gehört habe.«
»Geschichte!« Der Zwerg schnaubte verächtlich. »Womöglich noch eine mit einem Happy End, was? Sehen wir vielleicht glücklich aus? Bei uns heißt es eher: Und sie lebten unglücklich bis an ihr bitteres Ende.«
»Wir hätten sie den Bären überlassen sollen«, sagte Bruder Nummer Fünf missmutig. »Die wissen wenigstens, wie man jemanden richtig umbringt.«
»Goldlöckchen«, sagte Bruder Nummer Eins und nickte zustimmend. »Ein echter Klassiker.«
»Ja, das Gör war furchtbar«, sagte Bruder Nummer Fünf. »Man kann’s ihnen wirklich nicht verübeln.«
»Moment mal«, sagte David. »Goldlöckchen ist doch aus der
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