Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
silbrig und hatten viele wundersame Formen. Schließlich wurde die Schlucht breiter, und je mehr sie sich öffnete, desto niedriger und zerklüfteter wurden ihre Flanken, und im Bett des Flusses hinderten immer mehr Felsen seinen Lauf, so dass seine Wasser dagegenschäumten und aufspritzten. Lange saß Tuor da, bestaunte das aufgerührte Wasser und lauschte seiner Stimme, und dann erhob er sich, sprang vorwärts von Stein zu Stein und sang dabei; erschienenaber die Sterne in dem schmalen Streifen Himmels über der Rinne, schlug er die Harfe, und Echos antworteten ihrem harschen Gezupf.
Eines Tages, als Tuor ein großes Stück Wegs zurückgelegt hatte und müde vom Gehen war, vernahm er im tiefen Abend einen Schrei, und er konnte sich nicht schlüssig werden, von welchem Wesen er stammte. Zuerst meinte er, es sei ein Feen-Geschöpf, dann glaubte er, es sei nur ein kleines Tier, das zwischen den Felsen winsele, dann wieder war ihm, als pfeife ein unbekannter Vogel mit einer Stimme, die ihm neu war und wundersam traurig klang – und weil er auf seinem ganzen Wege durch die Goldene Spalte nicht eine einzige Vogelstimme gehört hatte, war er froh über dieses Getön, mochte es auch eine Klage sein. Am nächsten Tag zur Morgenstunde vernahm er über seinem Kopf denselben Schrei, und aufblickend gewahrte er drei große weiße Vögel; von rückwärts näherten sie sich, flogen mit kräftigen Flügelschlägen die Schlucht hinauf und stießen Schreie aus, denen gleich, die er in der Mitte der Dämmerung vernommen hatte. Diese Vögel nun waren Möwen, die Vögel von Osse. 8
In diesem Teil des Flusslaufs gab es kleine Felsinseln im Strom und an den Wänden der Schlucht herabgefallene Felsbrocken, von weißem Sand umsäumt, so dass das Gehen beschwerlich war, und nachdem Tuor eine Weile gesucht hatte, fand er eine Stelle, wo er schließlich unter Mühen zur Spitze der Klippen hinaufklettern konnte. Da blies ein frischer Wind ihm ins Gesicht, und er sagte: »Das tut wohl, und es ist wie ein Trunk Weines«, doch er wusste nicht, dass er den Gestaden des Großen Meeres nahe war.
Während er über den Wassern dahinschritt, verengte sich die Schlucht aufs Neue, und die Wände ragten hoch hinauf, so dass er sich auf dem hohen Kamm einer Klippe bewegte, bis eran eine schmale Felsenenge kam, die lautes Getöse umhüllte. Da blickte Tuor in die Tiefe und sah das größte der Wunder: Es schien, als steige eine Flut wütenden Wassers die Enge empor und wolle in den Fluss zurück zu seiner Quelle strömen, doch das Wasser aus dem fernen Mithrim stemmte sich ihm entgegen, und eine Mauer aus Wasser reckte sich fast bis zur Klippenspitze, von Gischt gekrönt und von den Winden gezaust. Dann wurden die Wasser des Mithrim niedergeworfen, und die einströmende Flut schoss brausend in die Enge, überschwemmte die Felsinseln und wühlte den weißen Sand auf – so dass Tuor, der vom Wesen des Meeres nichts wusste, voller Furcht floh; aber es waren die Ainur gewesen, die ihn in seinem Herzen bewogen hatten, aus der Schlucht herauszuklettern, sonst hätte die kommende Flut ihn ertränkt, die ein Wind aus Westen mächtig aufschwellen ließ. Darauf fand sich Tuor in einem öden Land, karg an Bäumen, und ein Wind aus dem Westen fegte darüber hin, der so mächtig war, dass jedwedes Gestrüpp und Gebüsch sich zu Boden neigte. Und hier wanderte er eine Zeitlang umher, bis er zu den schwarzen Klippen am Meeresufer kam und den Ozean und seine Wogen zum ersten Male erblickte, und zu dieser Stunde sank weit draußen im Meer die Sonne unter den Saum der Erde, und mit ausgebreiteten Armen stand er oben auf der Klippe, und ein unermessliches Verlangen erfüllte sein Herz. Es sagen nun einige, dass er der Erste der Menschen war, der das Meer erreichte, es beschaute und die Sehnsucht erfuhr, die ihm eigen ist; doch weiß ich nicht, ob sie die Wahrheit sprechen.
In diesen Landstrichen schuf er sich eine Bleibe und hauste in einer Bucht, die von großen, finsteren Felsen geschützt und deren Grund mit weißem Sand bedeckt war, außer wenn die hohe Flut ihn zum Teil mit blauem Wasser überschwemmte, und weder Feuchtigkeit noch Gischt kamen dorthin, es sei dennin Zeiten schwersten Sturms. Lange hielt er sich dort auf, lebte allein, wanderte am Ufer umher oder durchstreifte bei Ebbe die Felsen, bestaunte die Teiche und die hohen Kräuter, die tropfenden Grotten und lernte die seltsamen Meeresvögel kennen; doch das Steigen und Fallen des Wassers und die Stimme
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