Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
Wasser und dachte an den Durst der ganzen Schar, die er führte; doch Earendel sprach weiter: ›Es war gut, Meglin sterben zu sehen, denn er wollte meiner Mutter Gewalt antun – und ich konnte ihn nicht leiden; aber in Tunnels möchte ich nicht reisen, trotz der Wolfreiter Melkos.‹ Da lächelte Tuor und setzte ihn auf seine Schultern. Bald danach kam die übrige Schar heran, und Tuorübergab Earendel seiner Mutter, und Idril war sehr glücklich; doch Earendel mochte nicht in ihren Armen getragen werden und sagte: ›Mutter Idril, du bist müde, und bei den Gondothlim reiten Krieger nicht, wenn sie eine Rüstung tragen, höchstens der alte Salgant!‹ Und trotz ihres Kummers musste seine Mutter lachen; doch Earendel fuhr fort: ›Ach, wo ist Salgant?‹ – denn Salgant hatte ihm wunderliche Geschichten erzählt oder zuweilen spaßige Spiele mit ihm gespielt, und Earendel hatte mit dem alten Gnom in jenen Tagen viele lustige Stunden verbracht, als dieser manchen Tag in Tuors Haus kam, weil er den guten Wein und die feinen Speisen liebte, die ihm dort vorgesetzt wurden. Aber niemand konnte sagen, wo Salgant war, und jetzt erst recht nicht. Vielleicht hat das Feuer ihn auf seinem Bett ereilt; doch einige meinten, er sei als Gefangener zu den Hallen Melkos geführt worden und spiele dort dessen Narren – und das ist ein schlimmes Schicksal für einen Edlen aus der guten Rasse der Gnomen. Da wurde Earendel traurig und ging stumm neben seiner Mutter.
Sie kamen nun zu den Vorbergen, und es war später Morgen, doch noch immer grau, und dort, nahe dem Beginn des Aufstiegs, streckte man sich aus und rastete in einem kleinen Tal, gesäumt von Bäumen und Haselgesträuch, und viele schliefen trotz der Gefahr, denn sie waren völlig erschöpft. Doch Tuor ließ strenge Wache halten, und er selbst schlief nicht. Hier verzehrten sie ein karges Mahl; und Earendel stillte seinen Durst und spielte am Rande eines kleinen Baches. Dann sagte er zu seiner Mutter: ›Mutter Idril, ich wollte, der gute Ecthelion wäre bei uns und spielte mir auf seiner Flöte vor oder schnitzte mir Pfeifen aus Weidenrohr! Ist er vielleicht schon vorausgegangen?‹ Doch Idril verneinte und erzählte ihm, was sie über das Ende Ecthelions von der Quelle gehört hatte. Darauf erwiderte Earendel, es liege ihm nichts daran, die Straßenvon Gondolin jemals wiederzusehen, und er weinte bitterlich; doch Tuor sagte, die Straßen Gondolins werde er nie wieder sehen, ›denn Gondolin ist nicht mehr‹.
Als die Sonne hinter den Bergen zu sinken begann, befahl Tuor aufzubrechen, und die Flüchtlinge eilten weiter über zerklüftete Pfade. Das Gras wurde nun rasch dünner, wich bemoosten Steinen, die Bäume verschwanden, und sogar die Kiefern und Tannen wuchsen spärlich. Gegen Sonnenuntergang wand sich der Weg um einen Bergrücken, so dass sie nicht mehr nach Gondolin zurückschauen konnten. Dort wandte sich die ganze Schar um, und seht! wie einst liegt die Ebene klar und freundlich im letzten Licht; doch weit in der Ferne schoss eine gewaltige Flamme auf gegen den verdunkelten nördlichen Himmel – und das war der Fall des letzten Turms von Gondolin, und es war ebenjener, der dicht am südlichen Tor gestanden hatte und dessen Schatten oft auf die Mauern von Tuors Haus gefallen war. Dann versank die Sonne, und sie sahen Gondolin nicht mehr.
Der Pass von Cristhorn, die Adlerspalte, ist ein gefährlicher Pfad, und diese Schar hätte ihn bei Dunkelheit nicht zu betreten gewagt, ohne Lampen oder Fackeln, todmüde und belastet mit Frauen und Kindern und elenden und verwundeten Männern, wäre nicht die Furcht vor Melkos Spähern so groß gewesen, denn die Zahl der Flüchtlinge war groß, und sie konnten sich nicht völlig lautlos bewegen. Die Dunkelheit verdichtete sich rasch, als sie sich der Höhe näherten, und sie mussten hintereinander in einer lang auseinandergezogenen Linie gehen. Galdor und eine Gruppe mit Speeren bewaffneter Männer gingen voran, und bei ihnen war Legolas, der in der Dunkelheit schärfer und weiter sehen konnte als eine Katze. Darauf folgten die kräftigsten der Frauen, die den Kranken und Verwundeten beistanden, die zu Fuß gehen konnten. Darunterwaren Idril und Earendel, der sich tapfer hielt, doch hinter ihnen in der Mitte ging Tuor mit allen seinen Männern vom Flügel, und sie trugen einige, die schwer verwundet waren, und Egalmoth war bei ihm, doch er hatte beim Ausfall vom Platz eine Wunde davongetragen. Dahinter folgten wieder viele
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