Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
Frauen mit Säuglingen und Mädchen und lahmen Männern, denen selbst das langsame Gehen schwerfiel. Die Nachhut bildete die größte Gruppe kampftüchtiger Männer, und dort war der goldhaarige Glorfindel.
So waren sie zum Cristhorn gekommen, einem schlimmen Ort, denn er liegt so hoch, dass weder Frühling noch Sommer je dorthin kommen, und es ist dort sehr kalt. Wahrlich, während im Tal die Sonne lacht, liegt in diesen öden Gefilden das ganze Jahr Schnee, und eben als sie dort anlangten, kam hinter ihrem Rücken aus dem Norden ein heulender schneidender Wind. Schnee fiel, wurde vom Wind umhergewirbelt und trieb ihnen in die Augen; und das war gefährlich, denn dort ist der Pfad schmal, und zu ihrer Rechten oder nach Westen hin steigt senkrecht zum Pfad eine Felswand beinahe sieben mal sechzig Fuß hoch empor, bevor sie oben in zerklüftete Spitzen ausläuft, wo viele Adlerhorste sind. Dort haust Thorndor, König der Adler, Fürst der Thornhoth, den die Eldar Sorontur nannten. Doch auf der anderen Seite gähnt ein Abgrund, wenn auch nicht senkrecht, so doch entsetzlich steil, und lange Felsnadeln stechen aus ihm hervor, so dass man hinunterklettern – oder vielleicht fallen, doch unter keinen Umständen hinaufgelangen kann. Und aus dieser Tiefe gibt es nach keiner Seite ein Entkommen, und an ihrem Grund fließt der Thorn Sir. Von Süden stürzt er über einen mächtigen Felsvorsprung hinab, doch sein Wasserfall ist dünn, denn in diesen Höhen ist er noch ein kleiner Fluss. Er fließt nur ein kurzes Stück über der Erde durch ein steiniges Bett, ehe er nach Norden hin in einen schmalenSpalt hinabfließt, der in den Berg führt, und nicht einmal ein Fisch könnte sich mit ihm hindurchzwängen.
Galdor und seine Männer sind nun fast bis zu der Stelle gekommen, wo der Thorn Sir in den Abgrund stürzt, und die anderen waren, trotz aller Anstrengungen Tuors, fast über die ganze Länge des gefährlichen Weges zwischen Abgrund und Klippe verteilt, so dass Glorfindels Schar kaum den Anfang des Pfades erreicht hatte, als ein Schrei durch die Nacht gellte, der in der wilden Gegend widerhallte. Seht! Galdors Männer wurden in der Dunkelheit plötzlich von Gestalten angegriffen, die hinter Felsen hervorsprangen, wo sie, selbst den Augen von Legolas verborgen, auf der Lauer gelegen hatten. Tuor war der Meinung, sie seien mit einem der streifenden Trupps Melkos zusammengestoßen, und glaubte, ihnen stehe nur ein kurzes Scharmützel bevor, doch er schickte die Frauen und Kranken nach hinten, vereinigte seine Männer mit denen von Galdor, und es kam zum Kampf auf dem gefährlichen Pfad. Doch nun stürzten von oben Felsbrocken herunter, und das war eine böse Überraschung, denn sie richteten schlimmes Unheil an; doch noch schlimmer schien Tuor die Lage, als er von der Nachhut Waffenlärm hörte, und ein Mann aus dem Haus der Schwalbe brachte ihm die Nachricht, dass Glorfindel von Männern hart bedrängt wurde, die ihn von hinten angriffen und einen Balrog bei sich hatten.
Da befürchtete er ernsthaft, sie seien in eine Falle geraten, und ebendies war in Wahrheit auch geschehen; denn überall in den Umzingelnden Bergen hatte Melko Wächter postiert. Doch wegen der Tapferkeit der Gondothlim waren so viele davon für den Angriff auf die Stadt abgezogen worden, dass ihrer nur noch wenige waren, und hier im Süden war ihre Zahl am kleinsten. Gleichwohl hatte einer dieser Wächter Tuors Zug erspäht, als dieser aus dem Haselnusstal aufbrach und sich anden Aufstieg machte; und als man so viele Banden zusammengerufen hatte wie irgend möglich, beschloss man, die Verbannten auf dem gefährlichen Pfad am Cristhorn von vorn und von hinten anzugreifen. Trotz der Plötzlichkeit des Überfalls hielten nun Galdor und Glorfindel stand, und viele Orks wurden in den Abgrund gestoßen; aber die stürzenden Felsbrocken würden wahrscheinlich alle ihre Tapferkeit zunichte machen und die Flucht aus Gondolin am Ende scheitern lassen. Zu dieser Stunde stieg der Mond über den Pass, und die Düsternis wurde ein wenig lichter, denn sein mattes Licht drang an dunkle Orte; doch den Pfad erhellte es nicht, weil die Felswände zu hoch waren. Da erhob sich Thorndor, König der Adler, und er liebte Melko nicht, denn Melko hatte viele Adler aus seiner Sippe gefangen, sie an spitze Felsen gekettet, um ihnen die Zauberworte abzupressen, durch die er das Fliegen zu erlernen hoffte (denn er träumte davon, es in den Lüften selbst mit Manwe aufzunehmen); und
Weitere Kostenlose Bücher