Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
das Volk von der Goldenen Blume und konnte seine Tränen nicht trocknen.
Wohlan, wer vermag schon von den Wanderungen Tuors und der Verbannten von Gondolin zu erzählen, in den Einöden jenseits der Berge, im Süden des Tales von Tumladin? Voller Elend waren ihre Tage, voll Tod und Kälte und Hunger und unaufhörlichem Wachen. Dass sie jemals unversehrt durch diese Gegenden gelangten, die Melkos Unheil umlauerte, kam daher, dass das große Gemetzel beim Angriff seine Macht beschädigt hatte und Tuor sie mit größter Eile und Vorsicht führte; denn sicher ist, dass Melko von dieser Flucht wusste und darüber vor Wut raste. Ulmo hatte in den fernen Ozeanen von allem Kenntnis erhalten, was vorgefallen war, doch er konnte ihnen noch nicht helfen, denn sie waren fern von Wassern und Flüssen – und in der Tat litten sie bitteren Durst, und sie kannten den Weg nicht.
Aber nachdem sie länger als ein Jahr unterwegs gewesen und manches Mal von den Zaubern dieser Einöden in die Irre geführt worden waren, so dass sie sich auf ihren eigenen Spuren wiederfanden, wurde es abermals Sommer, und als er sich seiner Mitte näherte, 37 kamen sie endlich an einen Fluss, und als sie ihm folgten, in bessere Lande und waren ein wenig getröstet. Hier übernahm Voronwe ihre Führung, denn spät in einer Sommernacht hatte er in diesem Fluss ein Wispern Ulmos erlauscht – und er wusste die Stimmen der Wasser immer klug zu deuten. Nun führte er sie weiter, bis sie zum Sirion kamen, der von diesem Fluss gespeist wurde, und da erkannten Tuor und Voronwe, dass sie in der Nähe des einstigen Ausgangs des Weges der Flucht waren und sich abermals in dem tiefen Tal mit den Erlen befanden. Hier waren alle Büsche zertrampelt und die Bäume verbrannt und die Wände des Tals von Flammen versengt, und sie weinten, denn sie glaubten das Schicksal jener zu kennen, die sich einst am Eingang des Tunnels von ihnen getrennt hatten.
Nun zogen sie an diesem Fluss entlang, doch abermals in Furcht vor Melko, und wehrten Angriffe von Ork-Banden ab und gerieten durch die Wolfreiter in Gefahr, doch Feuerdrachen ließ Melko nicht gegen sie los, weil ihre Feuer durch die Einnahme Gondolins erschöpft waren und weil mit dem Fluss die Macht Ulmos wuchs. So kamen sie nach vielen Tagen – denn sie wanderten langsam und klaubten mühsam zusammen, was sie zum Leben brauchten – zu den großen Heideflächen und Sümpfen hinter dem Land der Weidenbäume, und diese Gegend kannte Voronwe nicht. Hier nun fließt der Sirion eine sehr lange Strecke unter der Erde und taucht in die große Höhle der Stürmischen Winde, doch dann fließt er hinter den Dämmerseen wieder oben weiter, wo Tulkas später mit Melko selbst kämpfte. 38 Tuor hatte diese Gegend bei Nacht und in der Dämmerung durchquert, nachdem Ulmo im Ried zu ihm gekommen war, und er konnte sich daher an die Pfade nicht erinnern. Stellenweise ist dieses Land voll von Trugbildern und sehr sumpfig; und hier wurde die Schar lange aufgehalten und von Stechfliegen belästigt, denn es war noch immer Herbst, und Schüttelfröste und Fieber gingen unter ihnen um, und sie verfluchten Melko.
Doch schließlich erreichten sie die großen Teiche und die Ränder des überaus lieblichen Landes der Weidenbäume, und der erste Hauch seiner Winde brachte ihnen Ruhe und Frieden, und der Trost, den dieses Land spendete, milderte ein wenig das Leid jener, welche die Toten des Falls von Gondolin beklagten. Dort wurden Frauen und Mädchen wieder schön und ihre Kranken wieder gesund, und alte Wunden hörten zu schmerzen auf; doch allein jene, die mit Grund um ihr Volk fürchteten, das noch immer in bitterer Knechtschaft in den Eisenhöllen schmachtete, sangen nicht und lächelten nicht.
Hier blieben sie sehr lange, und Earendel war ein Jüngling geworden, ehe der Klang von Ulmos Muscheln Tuors Herz fesselte, so dass die Sehnsucht nach dem Meer mit einer Kraft zurückkehrte, die umso stärker war, als sie über Jahre unterdrückt worden war; und auf sein Geheiß machte sich die ganze Schar auf und zog am Sirion entlang zum Meer.
Nun hatte das Volk, das in die Adlerspalte gezogen und den Fall Gondolins gesehen hatte, fast achthundert Köpfe gezählt – ein großer Zug von Wanderern, doch es war ein trauriger Überrest einer so schönen und volkreichen Stadt. Jene jedoch, die Jahre danach aus den Gräsern des Landes der Weidenbäume aufbrachen und zum Meer zogen, als der Frühling Scharbockskraut über die Auen streute und sie zum
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